Serge Yasmina Reza 2020

Dieser Ende 2020 veröffentlichte Roman von Yasmina Reza ist ein vielschichtiger Roman, der Familienstrukturen, existenzielle Probleme wie den Tod, politisch-soziale Aspekte und aktuelle Formen der Erinnerungskultur am Beispiel der Gedenkstätte Auschwitz behandelt. Diese Themen werden mit viel Humor und Sarkasmus vor allem am Beispiel einer Familie mit jüdischen Wurzeln behandelt. Die Autorin hat in einem Interview in der Zei-tung „Le Monde” (15.01.2021) ihren Erzählstil in diesem Roman durchaus treffend zusammengefasst: „Le rire de la catastrophe est toujours par-fait.” Lebenswege, persönliche Krisen, Gefühle und die Entwicklung der Beziehungen zwischen den ungleichen Geschwistern Serge, Jean(Erzähler) und Nana stehen dabei im Vordergrund. Der zeitweise als zwielichtiger Unternehmensberater tätige Serge erscheint als zerbrechliche Persönlichkeit, die Disziplin, Routinen und moralische Doppeldeutigkeit schonungslos anprangert und zu Kurzschlussreaktionen und Wutanfällen neigt. Seine weitreichende Distanzierung von der Gesellschaft und von bürgerlichen Wertvorstellungen und das Scheitern seiner Liebesbeziehungen machen aus ihm dennoch einen bedauernswerten Menschen, der nur in seinem beruflich erfolgreichen Bruder Jean und zeitweise in seiner Schwester Nana einen verlässlichen und verständnisvollen Anker findet. Von Carole, der Mutter seiner Tochter Joséphine, lässt er sich scheiden, und die Beziehung zu seiner Freundin Valentina wird schließlich von ihr abgebrochen. Der Erzähler Jean, der einen gemeinsamen Sohn(Luc) mit seiner Exfreundin Marion hat, hat ebenfalls persönliche Probleme, kommt aber damit besser zurecht als sein Bruder, den er in vielem bewundert und dem er nacheifert trotz seiner Kritik an Serge. Die Schwester Nana, die in einem Wutanfall Serge als unfähig zum Glück und als gescheiterte Existenz kritisiert, lebt in einer bürgerlich-konservativ geprägten Familie mit ihrem spanischen Ehemann Ramos und ihren Kindern Victor und Margot. Trotz der Spannungen zwischen den drei Geschwistern bleibt eine positive emotionale Bindung zwischen ihnen bestehen, die sie immer wieder zusammenführt. Auch die anderen Figuren im Kreis dieser Familie sind interessante Persönlichkeiten, die in ihrer Widersprüchlichkeit humorvoll und z. ironisch dargestellt werden. Die Eltern der Geschwister, die an einer schweren Krankheit sterben, erscheinen lange als sich streitende und liebende Bezugspersonen, die eine besondere Bindung zu ihren Kindern haben. Joséphine, die Tochter von Serge, hängt sehr an ihrem Vater, obwohl sie mit ihrer Orientierung an modernen Mustern vergnügungssüchtiger junger Leute und gesellschaftlichen Normen bei ihrem Vater auf Kritik stößt. Der entfernte Verwandte Maurice, dessen Schalk ihn auch als Greis nicht loslässt, lässt sich seinen Lebensmut bis zu seinem Tod als Hundertjähriger nicht nehmen. Im Zentrum der Handlung steht ein Besuch der Gedenkstätte Auschwitz, der auf Drängen von Joséphine und Nana trotz der Bedenken der Brüder Serge und Jean als Pflichtbesuch einer Familie mit jüdischen Wurzeln stattfindet. Dabei stellt die Autorin die diesbezügliche Erinnerungskultur aus der Perspektive der beiden Brüder als eine fragwürdige und weitgehend touristisch geprägte Form der Vergangenheitsbewältigung dar, die den Lauf der Geschichte nicht verändern kann. Zwischen Nana und ihren Brüdern kommt es folgerichtig während dieses Besuchs zu einem Bruch, der erst anlässlich der schweren Erkrankung von Serge schließlich ein Ende findet. Die Geschwister finden wieder zusammen. Insgesamt handelt es sich um einen lesenswerten Roman, der vor allem in psychologischer Hinsicht viele Themen unserer Zeit mit sehr viel Humor aufgreift. Zu bedauern sind lediglich einige Längen des Romans.