Lorraine Fouchet


386 Seiten, Atlantik Verlag 2017

Das Herz ist eine Insel

Der Tod reißt immer ein Loch in das Leben der Hinterbliebenen und nicht selten ist er selber auch den Grund, warum wir leben und dass man das Beste daraus machen muss, bevor es zu spät ist.
Als Lou auf der Île de Groix stirbt, hinterlässt sie eine Familie, in der ein jeder ein gebrochendes Herz hat, aus verschiedensten Gründen. Da sind die Kinder Sarah und Cyrian, die mit Krankheit und unglücklicher verlaufender Liebe zu kämpfen haben und Lous Enkel Charlotte und Pomme, die unterschiedlicher nicht sein könnten aber beide für sich um die Liebe ihres Vaters Cyrian kämpfen. Und da ist natürlich der Witwer Jo, der in seinem Leben als Arzt dem Tod so oft begegnet ist und jetzt nicht glauben kann, dass er das Leben seiner Familie durcheinander wirbelt.

Es ist ein Buch über das Loslassen und über das Heilen. Nicht nur muss der Tod der geliebten Ehefrau, Mutter und Großmutter überwunden werden, es gibt auch einiges in dem jeweils eigenen Leben zu reparieren, es wieder in die Spur zu bringen. Das ist die Aufgabe, die Lou ihrem Jo hinterlassen hat und der hat daran alle Hände voll zu tun.

Der Leser taucht ein in eine eigentlich ganz gewöhnliche Familiengeschichte über Verletzlichkeit, Scheitern und auf der anderen Seite der Heilung und der Liebe in ihren vielen Facetten. Der Schauplatz Île de Groix könnte nicht besser gewählt sein; ein begrenzter Ort, der Heimat bedeutet, in dem das Meer allgegenwärtig ist und an jeder Ecke Erinnerungen lauern. Dabei ist diese Insel nicht etwa weltentrückt, nein, vielmehr ist es eine Welt im Kleinen, auf dem das Leben nur ein kleines bisschen langsamer läuft als auf dem Festland. Nicht jeder Zufluchtsort muss auch weltentrückt sein. Das zeigt Lorraine Fouchet hier und lässt etwa ihre Figuren Google Alerts anlegen oder eine Szene durch die Linse einer Webcam erleben.

Die Autorin erweckt die Charaktere in einer ihr eigenen poetischen Sprache zum Leben. Bei dem häufigen Perspektivwechsel bleibt manchmal zwar die Authentizität auf der Strecke, etwa wenn zehnjährige Mädchen wie Charlotte und Pomme in einer zu erwachsenen Sprache sprechen, aber das stimmige Gesamtbild bleibt erhalten. Dem Kitsch entgeht sie durch überraschende und wohl durchdachte und dosierte Wendungen, die dieses Buch zu einem echten Schatzkästchen werden lassen. Man öffnet gerne den Buchdeckel jeden Abend auf ein Neues und taucht ab auf der Île de Groix. Da schließt sich der Kreis: Die Herzen, im physischen wie im vergeistigten Sinn spielen eine zentrale Rolle. Das Herz eben nichts anderes als eine Insel, das hier in Gestalt von Groix daherkommt.

:arrow_right: Das Buch ist vor drei Tagen auf deutsch erschienen und ich hatte ein Rezensionsexemplar. Mir hat der Roman richtig gut gefallen, es ist keine platte Unterhaltungsliteratur, sondern eine Geschichte mit kreativen Einfällen und schöner Sprache erzählt. Ein kleiner Ausflug auf die Île de Groix und sehr empfehlenswert.

Links
Wikipedia-Eintrag zur Autorin auf französisch
Artikel zum Buch und Groix bei Ouest France


Lorraine Fouchet - Die Farben des Lebens
Atlantik-Verlag, März 2018
320 Seiten
Bildquelle: Verlag

Was sind die Farben des Lebens? Auch ohne das Buch gelesen zu haben, fällt die Antwort nicht schwer: Alle. Helle wie dunkle, blasse und satte. Lieblingsfarben und Farben, die man nicht so mag. Die Frage ist, ob nicht genau darin das Glück besteht, am Leben zu sein: Dass es eben nicht nur die Lieblingsfarbe gibt, sondern es auch die anderen Farben sind, die die Lieblingsfarbe erst hervorstechen lassen. Dieser Roman füllt dieses Prinzip mit Inhalt.

Wer darüber nie nachgedacht hat, wird es beim Lesen dieses Buches tun. Die Geschichte ist einfach: Kims Großmutter stirbt. Freiwillig. Kim fühlt sich alleingelassen und will der Frage nachspüren, ob das Leben im Alter wirklich nicht lebenswert ist, wie ihre Oma es fand. An der Côte d‘Azur übernimmt sie für einen Monat die Betreuung einer wirklich seltsamen alten Dame und taucht ein in ihre Lebensgeschichte, die auch ein großes Rätsel birgt.

Dieses Rätsel nimmt große Teile des Buches ein, manchmal liest es sich wie ein Krimi. Es ist dabei die Aufgabe des Lesers, das Wesentliche nicht aus den Augen zu verlieren: Was erzählt es einem über das Leben und was über das der Figuren? Eine ganze Menge. In erster Linie, dass jeder eine eigene Sicht auf die Dinge hat und jeder eine eigene Wahrheit. Es bleibt dahingestellt, ob das gut oder schlecht ist. Fakt ist: Jeder verdient die Geschichte, die er sich selber ausdenkt. Fantasie spielt eine große Rolle in diesem Roman. Dinge wie Kühlschränke und Spiegel werden belebt, erzählen Geschichten und geben damit einen Einblick in den Kosmos eines alternden Menschen, der sich wie ein Ertrinkender an Liebgewonnenem festklammert.

Die Figuren sind außergewöhnlich und liebevoll gestaltet, die Protagonistin Kim sticht nicht heraus, sondern ist ganz und gar durchschnittlich. So illustriert die Autorin, dass man kein selbstbewusster und vollkommener Mensch sein muss, um Weisheit und vor allem Liebe zu erlangen. Mut machend. Es ist das Leben selber, das der eigentliche Held der Geschichte ist. Es ist permanent bedroht, egal ob alt, jung oder noch ungeboren. Und immer wieder wird es gerettet, ganz intuitiv. Warum? Weil man liebt und Liebe verdient, egal was für ein Mensch man ist.

Lorraine Fouchets überragendes Talent ist es, dramatische Geschichten leicht zu erzählen, mit außergewöhnlichen sprachlichen Mitteln, die dem Geschehen mal die Schärfe nehmen, sie mal verstärken. Manchmal spielt sich ein Drama in einem Nebensatz ab und geht dem Leser ziemlich an die Nieren. Dies ist ein Buch zum Nachdenken über das Alter und den Tod. Das sollte man wissen, bevor man mit dem Lesen beginnt. Es dient nicht der mitfühligen Unterhaltung, sondern es wühlt auf und stößt einen selber mit der Nase auf die Dinge, die man gerne zur Seite schiebt. Man wird mit Ängsten konfrontiert, aber – und das ist der große Gewinn dieses tollen Romans – auch mit einer Lösung.

5 von 5 Punkten. Bisher mein Lieblingsbuch des Jahres.
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