Le Livre des Baltimore

Vor einigen Jahren veröffentlichte der junge schweizer Autor Joël Dicker einen Roman, der weltweit Erfolg hatte, Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert. Es handelte sich um einen jungen amerikanischen Schriftsteller, Marcus Goldman, der Inspiration für ein Buch in die Ermittlungen im Fall des Verschwindens eines Mädchens findet.

Ende 2015 veröffentlichte Dicker einen neuen Roman, Le Livre des Baltimore. Dieser Roman ist nicht die Fortsetzung von Harry Quebert, obwohl Marcus Goldman wieder die Hauptrolle übernimmt. Schon wieder hat Marcus Inspirationsprobleme! Diesmal rettet ihn seine eigene Familie bzw die Familie seines Onkels. Diese Goldman-Familie wohnt in Baltimore (daher der Titel) und ist besonders reich. Marcus’ Eltern hingegen wohnen in Montclair und gehören der Mittelschicht. Da Marcus ein sehr enges Verhältnis zu seinem Cousin hat, verbringt er viel Zeit bei den Goldman-de-Baltimore. Seine ganze Jugend ist vom Konstrast zwischen den reichen Baltimore und den weniger reichen Goldman-de-Montclair geprägt… bis eine Tragödie ein völlig anderes Bild der Familienbeziehungen zeichnet…

Wie bei Harry Quebert ist dieser Roman sehr spannend. Es passiert unheimlich viel, keine Zeit für Langeweile, bis zum Schluss bleibt es spannend. Die stille Konkurrenz zwischen den sozialen Schichten aber auch innerhalb eines Hauses ist gut dargestellt und nicht immer da, wo man sie erwartet. In so fern interessant, als das, was dem jungen Marcus nicht auffällt, erst im Erwachsenenalter deutlich wird und die Verhältnisse innerhalb der Familien in einem neuen Licht erscheinen lässt.

Schade finde ich den Trick, den der Autor ständig und übertrieben anwendet, um die Spannung zu erhalten: ein bedeutendes Ereignis erwähnen, ohne es zu schildern, und plötzlich einen Sprung in der Chronologie machen, damit der Leser weiter lesen muss. Und das ist eben das Negative in der Erzählung: die hunderte Sprünge hin und her in der Zeit. Innerhalb eines einzelnen Kapitels (die Kapitel sind im Schnitt weniger als 10 Seiten lang) erzählt er von 2, 3 oder vier verschiedenen Epochen. Besonders am Anfang, als das Bild der Familie noch nicht sehr klar ist, ist es sehr verwirrend. Man weiss nicht mehr, was wann passiert ist, und vor bzw nach welchem anderen Ereignis.

Und grosses Minus, für die, die das Buch in Original lesen würden: es ist sehr schlecht geschrieben. Der Stil ist arm, so arm, dass ich finde, dass nicht einmal die angewendeten passé simple dazu passen; sie sind viel zu gehoben für diesen Stil. Viele Formulierungen klingen falsch oder sind es einfach, manchmal habe ich mich gefragt, ob das Buch nicht aus dem Englischen übersetzt wurde: « Sens-toi libre de changer d’école. » « On l’a fait! » (als Freude, dass beide Jungs es geschafft haben, in der selben Uni angemeldet zu werden). Ausserdem wirken die Dialoge unecht und besonders unter Jugendlichen ist das Sprachniveau nie passend. (aber das ist ein eher verbreitetes Problem in der modernen frz Literatur)
Jetzt habe ich vor, Harry Quebert noch einmal zu lesen, weil ich mich frage, ob es auch so schlecht geschrieben war und mir das vor so viel Spannung nicht aufgefallen wäre… :unamused:

Ich habe diesen Roman im Juni 2016 gelesen. Ich muss aber gestehen, dass ich diesen Roman nicht als « normalen » Pageturner konsumiert habe, sondern als XXL-Pageturner, d.h. ich habe irgendwann begonnen, einen Handlungsstrang auszublenden und vorzublättern. Ohne schlechtes Gewissen habe ich als Leserin die schlampige oberflächliche Art des Autors gespiegelt.
(« Der Fall Harry Quebert » kam mir dann im Dezember 2016 dran. Ich habe wiederum begonnen einen Handlungsstrang herauszukürzen.)
Den Protagonisten beider Romane, den Schriftsteller-Shootingstar Marcus Goldmann finde ich noch jetzt drei bzw. acht Monate später eigenartig und unsympathisch.
Ich befürchte, dieser Autor wird deshalb so gehypt, weil man stolz ist, « dicke(r) Romane » sehr schnell ausgelesen zu haben.