L'anomalie Hervé Le Tellier Prix Goncourt 2020

Mit Bezug auf einen Notfall während eines Flugs von Paris nach New York im Juni 2021 behandelt der Autor zwischenmenschliche Probleme sowie grundsätzliche Existenzprobleme. Während vor allem das erste Kapitel den Eindruck vermittelt, es könnte sich um einen Kriminalroman bzw. Thriller handeln, wird dann aber doch deutlich, dass dieser Roman durch Science Fiction(Star Trek), aber auch viele philosophische, religiöse und psychologische Fragen sowie romantische Elemente bzw. Liebesgeschichten geprägt ist. Häufige Zitate(Nietzsche, Descartes, Camus ) und zum Nachdenken anregende prägnante Werturteile der Protagonisten und des Autors sind ein weiteres wesentliches Merkmal dieses ungewöhnlichen Romans, der auch eine deutliche Kritik an der Literaturbranche darstellt. Im Mittelpunkt der Rahmenhandlung stehen die Passagiere des Flugs von Paris nach New York, von denen eine Auswahl in ihrer Entwicklung genauer dargestellt werden: der Berufskiller Blake mit seinem bürgerlichen Doppelleben, der homosexuelle nigerianische Popstar Slimboy, der unter seiner Erfolglosigkeit und Einsamkeit leidende Schriftsteller Victor Miesel , der Architekt André Vannier, der herausgefordert wird durch seine persönlichen Schwächen und ein komplexes Liebesverhältnis mit der in der Filmbranche arbeitenden Lucie Bogaert, der kranke Pilot David Markle, die mit einem persönlichkeitsgestörten US-Soldaten (Clark) verheiratete Avril Kleffman und ihre Tochter Sophia sowie die Staranwältin Joanna und die junge Adriana. Die Wissenschaftler Adrian Miller und Meredith Harper, Vertreter von FBI und NSA,Vertreter der Religionsgemeinschaften und religiöse Fanatiker(Jacob) sowie führende Politiker(der US-Präsident, der französische Präsident Macron, der chinesische Regierungschef ), Starjournalisten(Stephen Colbert mit seiner fragwürdigen Fernsehshow) und etliche weitere Personen(z. B. Anne, die heimliche Liebe Victor Miesels) bestimmen weitere wesentliche Etappen der Handlung. Der wichtigste Science Fiction-Kniff des Romans besteht in der Tatsache, dass es 2 Kopien eines Flugs vom März 2021(inklusive Passagiere) gibt. Der US-Präsident beendet schließlich die damit verbundenen allgemeinen Verwirrungen und Chancen durch eine verheerende Entscheidung. Der Roman, der auch trockenen Humor und Ironie erkennen lässt, ist lesenswert, vor allem wegen seiner intensiven philosophisch-psychologischen Prägung sowie der letzlich positiven Darstellung erfolglos erscheinender Liebesbeziehungen (Victor Miesel und Anne), hinterlässt bei mir allerdings auch zwiespältige Eindrücke. Die Fülle der erfassten Personen ist verwirrend, der Schluss erscheint etwas klischeebehaftet und wenig phantasievoll. Dass ausgerechnet der Berufskiller Blake lange Zeit unbehelligt sein Unwesen treiben kann, erscheint schwer vereinbar mit dem deutlichen philosophisch-moralischen Anspruch des Romans.