L'affaire Grégory

L’affaire Grégory ist ein Mordfall, der Frankreich seit über 30 Jahren fesselt. Alle Elemente eines spannenden Romans sind dabei : Mord, Rache, Eifersucht, anonyme Briefe bzw Anrufe, geschlossenes und schwieriges soziales Umfeld, gespaltene Familie, schweigsame Dorfbewohner, Gerüchte, Einsatz der Medien, Fehler der Justiz…

  1. Im 1000-Einwohner Dorf Lépanges-sur-Vologne in den Vogesen (Nord-Osten) leben Jean-Marie und Christine Villemin mit ihrem 4jährigen Sohn Grégory. Das junge Paar stammt aus Arbeiterfamilien und beide sind selber Arbeiter. Jean-Marie wurde sehr früh befördert, verdient gut und die Familie erlebt einen sozialen Aufstieg. Sie planen eine Vergrösserung ihres Hauses, besitzen 2 Autos.


Jean-Marie und Christine Villemin 1989.

Am 16. Oktober 1984 holt Christine nach der Arbeit ihren Sohn bei der Tagesmutter ab und fährt nach Hause. Gegen 17 Uhr bügelt sie, während Grégory draussen direkt vor dem Haus spielt. 20 Minuten später bemerkt Christine, dass ihr Sohn verschwunden ist. Sie fährt zur Polizei. In der Zwischenzeit bekommen die Eltern von Jean-Marie (Albert und Monique) einen anonymen Anruf, der die Entführung und den Mord des Junges ankündigt : der Sohn soll in den Fluss Vologne geworfen worden sein. Gleichzeitig wird im Postbüro einen anonymen Brief um 17:15 abgestempelt, den Christine und Jean-Marie am nächsten Tag bekommen werden. Der Autor freut sich über den Mord. Die Polizei sucht nach dem Sohn, der schliesslich gegen 21 Uhr tot im Fluss aufgefunden wird. Laut Gerichtsmediziner soll er gegen 17.30 gestorben sein. Seine Hände und seine Füsse sind gebunden. Ein Fotograf ist vor Ort und macht ein Foto der Leiche, das das ganze Land schockieren wird : das Interesse der Medien für den Fall wird riesig sein… und Konsequenzen haben.


Grégory Villemin 1984.

Die Ermittlungen fangen an, geleitet von einem Jungen Richter, Lambert, der in der Anwesenheit der Medien die Gelegenheit sieht, seinen Bekanntheitsgrad zu erhöhen und somit schnell Karriere zu machen.
Das Privatleben der Familie wird in allen Medien zu Schau gestellt. Albert und Monique sind seit Jahren Opfer von anonymen Peinigern. Zwischen 1981 und 1983 erhalten sie 800 Anrufe ! Der Anrufer ruft auch gelegentlich Jean-Marie und Christine an, auch am Arbeitsplatz. Er ruft auch regelmässig ein Bestattungsunternehmen an, um den Tod von Albert anzukündigen und damit das Unternehmen die Leiche abholt. Albert und Monique bekommen ständig Besuche von Leichenbestattern, die Albert abholen wollen. Dazu kommen anonyme Briefe. Alles deutet auf Eifersucht und Rache hin : Albert und Monique sollen Jean-Marie bevorzugt haben und ihre andere Söhne benachteiligt. Besonders Jacky, uneheliches Kind, das aber von Albert offiziell anerkannt wurde.
Es ist also klar : Grégory wurde getötet, um die Familie zu quälen. Es ist auch klar : der Täter lebt im Familienkreis, die Liste der möglichen Täter beschränkt sich also auf wenige Namen. Trotzdem bleibt der Täter heute noch unbekannt.


Der Richter Lambert 1984

Zuerst wird Bernard Laroche, fast gleichaltriger Cousin von Jean-Marie, verdächtigt. Bernard Laroche ist auch Arbeiter, hat einen Sohn im selben Alter wie Grégory, aber er hat es schwieriger als Jean-Marie im Leben : sein Sohn ist schwach, wird in den Medien sogar als behindert beschrieben, Bernard verdient auch nicht so viel, wie Jean-Marie…Eine Eifersucht scheint plausibel zu sein.
Die Analyse der Briefe beschuldigen ihn. Genauso wie eine belastende Aussage von Murielle Bolle, seiner 15jährigen Schwägerin : am jenem Tag sei sie nicht mit dem Bus von der Schule nach Hause gekommen (von Busfahrer und einigen Schülern bestätigt) sondern Laroche hätte sie mit dem Auto abgeholt. Sie seien gefahren, haben ein Kind irgendwo geholt und später woanders abgesetzt. (Murielle kennt die Villemin persönlich nicht). Die Beschreibung des Wegs führt zum vermutlichen Ort von wo Grégory ins Fluss geworfen wäre. Laroche wird festgenommen. Voller stolz erzählt der Richter vor allen Medien über den Inhalt der Aussage Murielles. Am nächsten Tag geht Murielle unter Druck der Familie zur Polizei und nimmt ihre Aussage zurück. Noch dazu werden die Briefenanalysen wegen Verfahrensfehlers für nichtig erklärt. Laroche ist frei, die Anwälte inszenieren mit Hilfe der Medien seine Rehabilitierung mit Frau und Sohn vor der Kamera als guter Vater und guter Ehemann.
Trotz Drohungen findet der Richter nicht nötig, Bernard Laroche unter Polizeischutz zu setzen. Im März 1985 wird Bernard Laroche von Jean-Marie Villemin erschossen. Laroche, der heute immer noch als vermutlicher Entführer (aber nicht unbedingt Mörder) betrachtet wird, wird nie wieder reden können.


Bernard und Marie-Ange Laroche mit Murielle Bolle 1985.

In einer zweiten Phase des Falls ist die Mutter Christine Villemin die Hauptverdächtige. Neue Analysen der Briefe beschuldigen diesmal sie. Noch dazu kommen Aussagen von Kolleginnen, die sie vor dem Post zur Zeit des Mordes gesehen haben wollen. Die Medien werden verrückt und gehen auf die kindesmörderische Mutter los. Libération schickt sogar die berühmte Schriftstellerin Marguerite Duras vor Ort, damit sie ihre Eindrücke schreibt. Ohne Respekt vor der Unschuldsvermutung drückt sich die Duras klar für die Schuld Christines aus. Kurz vor der Veröffentlichung dieses Artikels wurde Christine unter Anklage gestellt. Da die Beweise eher unbedeutend sind, bleibt sie frei.

Vor ihrem Prozess nutzen die Anwälte wieder die Medien aus, um Christines Image zu verbessern. Die Geburt ihr zweites Kind wird in der Klatschpresse mit Fotos berichtet, Christine schreibt sogar ein Buch.
1987 wird der Fall vom Gericht in Dijon übernommen. Mit einem neuen erfahrenen Richter, Simon, fängt eine neue Ermittlung an. Er geht professionneller vor und hält zunächst die Medien fern von den Ermittlungen. Im selben Jahr wird Jean-Marie Villemin frei gelassen. Das Paar zieht in die pariser Region um. Die Nachbarin in Lépanges erzählt der neuen Bewohnerin des Hauses alles, was sie Verdächtiges zur Zeit des Falles beobachtet hatte, schweigt aber weiterhin, wenn die Polizei sie befragt… Ende 1989 unterhält sich der Richter Simon informell mit einem Journalist und teilt seine persönliche Meinung über den Fall mit. Seine Aussagen werden als offizielles Interview veröffentlicht. Der Richter fühlt sich betrogen, sein bisheriger makelloser Ruf ist beschädigt. Noch schlimmer : die Familie Laroche zeigt ihn an. Der Zustand des altens Richters verschlechtert sich und Ende Januar 1990 bekommt er einen Herzinfarkt von dem er mit teilweise Gedächtnisverlust erwacht. Ein neuer Richter muss den Fall übernehmen.


Der Richter Simon, 1987

1993, fast 10 Jahre nach dem Mord, findet der Prozess von Christine statt. Das Gericht stellt das Verfahren ein : es gibt keine Beweise. Später im selben Jahr kommt Jean-Marie vor Gericht wegen des Mordes an Bernard Laroche. Alle Beteiligten des Falles sind da, man hofft auf eine Lösung des Falles… aber es passiert nichts. Jean-Marie ist zu 5 Jahren Haft verurteilt (1 bedingt) und wird kurz nach dem Prozess befreit. Es ist vorbei : alle schweigen wieder, die Justiz ist gescheitert.

Seitdem wir der Fall immer wieder neu ermittelt. Wenn die Technik Fortschritte macht (zum Beispiel mit DNA), untersucht man wieder Beweise. 1999, 2008, 2010 und 2012 ohne Erfolg. Auch die über 2000 an die Polizei geschickten anonymen Briefe, die die Wahrheit über den Fall wissen wollten, konnten nicht weiter helfen. Die Medien interessieren sich immer noch sehr für diesen Fall. Seit Oktober 1984 wurden über 3.000 Zeitungsartikel und 16 Bücher über den Fall geschrieben.

Die Zeit vergeht, das Leben geht weiter. Die Villemins leben immer noch in der pariser Region mit 3 Kindern. Die Ehefrau von Bernard Laroche, Marie-Ange, lebt immer noch in den Vogesen, jedoch nicht in Lépanges. Nach dem Tod Bernards, gebar sie einen zweiten Sohn. Ein drittes Kind bekam sie aus einer zweiten Ehe mit einem durch Selbstmord gestorbenen Mann. Beruflich war sie auch nie erfolgreich. Murielle Bolle wurde nach ihrer Aussage von der Schule vorläufig abgemeldet, um von den Medien fern bleiben zu können. Schliesslich ist sie nie wieder in die Schule gegangen. Sie lebt heute noch mit Mann und Kindern in einem Haus, das sie praktisch nie verlässt. Der Richter Lambert wurde 1988 versetzt und blieb fast seine ganze Karriere lang in einem entferten Gericht einer kleinen Provinzstadt (Bourg-en-Bresse).

In den letzten Wochen ging es wieder los. Diesmal glaubt man fest an eine Lösung des Falles… (aber hat man daran nicht schon fast 33 Jahre lang geglaubt?).
Ein Software wurde schon lange entwickelt, um Beweismittel automatisch zu analysieren und vergleichen. Die mehr als 12.000 Beweisstücke des Grégory-Falls wurden eingetragen und führen zu neuen Verdächtigen. Schon seit dem neuen Start der Ermittlungen 1987 vermuten die Ermittler eine Gruppenaktion. Mitte Mai 2017 wurden Marcel und Monique Jacob, Onkel und Tante von Christine Villemin, festgenommen. Bisher hatten sie keine grosse Rolle in diesem Fall gespielt. Sie sollen aber die Autoren der anonymen Briefe und Anrufe sein und an die Entführung des Kindes teilgenommen haben (bis zu welchem Grad?). 2 Wochen später erwischt es wieder Murielle Bolle, sie wird diesmal auch festgenommen : Beihilfe zu Mord und Nichtanzeige eines Verbrechens.

Juli 2017 werden Tagebucheinträge des längst verstorbenen zweiten Richters Simon veröffentlicht. Sie kritisieren heftig die Arbeit des ersten Richters Lambert und belasten ihn sehr. Am nächsten Tag wird Lambert in seiner Wohnung tot aufgefunden. Man geht von einem Selbstmord aus.

Fortsetzung folgt…

Der erste Richter ist tot? Das ist mal eine Neuigkeit und macht wirklich alles noch komplizierter.

Als ich im Juni in Frankreich war, hatte man das Verfahren gerade wieder aufgerollt und BFM-TV brachte fast pausenlos Sondersendungen. Leider habe ich die Hintergründe nicht verstanden, da irgendwie vorausgesetzt wurde, dass die Zuschauer jedes Detail kennen, vermutlich zurecht.

Danke, Mislep, dass du den Fall mal zusammengetragen hast. Ich hoffe, man kann dieses grausame Verbrechen und die absurde Geschichte endlich aufklären. Außerdem wüsste auch ich zu gerne, wer es denn war.

Was für eine schreckliche Geschichte… Ich hoffe, dass die oder der wahre Täter ermittelt wird!! Danke für die genaue Info.

Danke , Mislep , für Deine ausführliche Erklärung über diese gemeine Affäre.
Möchte nur dazu dem leider 2001 verstorbenen sehr erfahrenen Justizkolumnisten Frédéric Pottecher das Wort geben.
Er wurde in Bussang ( 30 km von Lépange ) geboren und kennt daher die Mentalität der Einheimischen sehr gut.
http://www.ina.fr/video/CAB8501198501

Wer ein Netflix-Abo hat und mehr über die Affaire Grégory erfahren will, kann sich die 5teilige von netflix produzierter Dokumentation ansehen, mit Interviews von Beteiligten (jedoch niemand aus den betroffenen Familien) und vielen interessanten Ausschnitten aus damaligen Medienberichten, sowohl Beiträgen von berichtenden Journalisten als auch damaligen Interviews mit allen Beteiligten im Fernseher oder Radio. Diese Dokumentationserie heisst einfach « Grégory » und ist auch mit deutschen Untertiteln verfügbar.