Werte, gibt es sie noch?

Zum Tag der Deutsch-Französischen-Freundschaft habe ich mal eine, vielleicht ein wenig philosophische, Frage für euch.

Wie sieht es aus mit den Werten in unseren beiden Ländern? Bemerkt ihr Unterschiede? Gibt es überhaupt noch Werte? Welche sind euch wichtig und welche nicht so sehr? :alld: :fr:

Ich bin z-B. aufgewachsen mit dem Wert „Rücksichtnahme“. Ich habe gelernt freundlich zu grüßen, Türen aufzuhalten wenn jemand hinter mit ist, den Sitzplatz freizumachen wenn jemand nicht so gut auf den Beinen ist. Und ich habe auch gelernt meinen Müll nicht einfach so wegzuwerfen, und auch keinem Tier oder Menschen absichtlich weh zu tun.
Und heute habe ich den Eindruck gerade die Rücksichtnahme geht mehr und mehr verloren. Der Müll wird einfach achtlos weggeworfen, gegrüßt wird schon lange nicht mehr, jedenfalls hier nicht. Ich habe es auch schon lange aufgegeben… Sogar „bitte“ ist oft ein Fremdwort geworden. Ist Höflichkeit ein Fremdwort geworden?
Ich war es auch gewohnt, dass man sich grüßt wenn man sich beim Waldspaziergang begegnet, auch wenn man sich nicht kennt. Hier würde das im Leben niemandem einfallen, da wurde ich immer nur doof angeguckt.

Die Umwelt ist doch noch lange egal geworden. Wenn ich jetzt morgens meinen sohn zu Fuß ein Stück zur Schule begleite sehe ich viele Leute ihre Autos freikratzen und lassen dabei den Motor laufen, kaum einer macht das ohne. Da frage ich mich doch, was stimmt denn mit mir nicht? Haben die nichts gelernt oder ich??

Und Religion… ist Glauben heute noch ein Wert oder mehr ein Instrument der Macht?

In Frankreich fällt mir dagegen immer auf wie freundlich die Menschen miteinander umgehen, gegrüßt werden auch Fremde auf der Straße, jedenfalls passiert mir das immer. Es ist immer Zeit für einen kleinen Plausch an der Supermarktkasse und „bitte“ und „danke“ sind keine Fremdwörter…

Wie erlebt ihr das in eurem Umfeld? Oder im Urlaub? Sehr ihr auch Unterschiede?

Das ist eine spannende Frage, Souris. Erstmal bin ich überzeugt, dass es keine Frage von Generationen ist. Ein tadelndes « Die Jugend von heute! » würde ich bei sowas nicht akzeptieren, denn mir begegnen auch viele unmögliche Senioren, von denen man denken sollte, dass sie doch definitiv eine ganz andere Erziehung genossen haben als heute üblich und gewisse Werte verinnerlicht haben sollten.

Es hat m.E. eher mit Aufmerksamkeit und auch mit der sozialen Schicht zu tun, der man entstammt oder in der man sich bewegt. Das fällt mir auf, seit ich in Hamburg wohne und täglich Bus fahre. Der fährt durch ziemlich wohlhabende Viertel und ich habe nicht ein einziges Mal erlebt, dass jemand nicht für ältere Herrschaften aufsteht. Das passiert da, wo ich aufgewachsen bin, weniger. Auf der anderen Seite fällt mir aber auch auf, dass manches eher Automatismen sind. Im Bus aufzustehen für Senioren ist halt ein Klassiker. Aber die gleichen Leute denken z.B. nicht daran, auch im Kaufhaus den Nachfolgenden die Tür in die Hand zu geben oder wenn sie mit jemandem reden und das Handy brummt, nicht sofort draufzuschauen und damit dem Gegenüber ungewollt klarzumachen, dass er gerade nicht Priorität hat.

Ich glaube nicht, dass man pauschal sagen kann, dass Franzosen höflicher sind und mehr Werte haben als Deutsche. Auf der anderen Seite gibt es sicher regionale Unterschiede was Mentalitäten angeht und das strahlt dann auch auf den Umgang mit Menschen aus. Aber auch da hat ja jeder andere Vorlieben. Wer etwa die höfliche Instanz der Norddeutschen mag und gewöhnt ist, fühlt sich von manchem Berliner unter Umständen vor den Kopf gestoßen. Manche Werte, die man so kennt, sind vielleicht nicht so universell wie man vermutet. Vielleicht ist manches für den anderen einfach nicht bekannt und entscheidet nicht darüber, was für ein Mensch er ist.

Ich bin auch der Überzeugung, dass Werte nichts mit Religion zu tun haben, sondern mit Anthropologie und Soziologie. Also eher sowas wie endotherm/exotherm in der Chemie: Aus dem Menschen heraus. Nicht auf den Menschen einwirkend, nichts Diktiertes wie Religion. So kommt es, dass man nicht alles gelehrt bekommt wie das Türaufhalten etc, sondern es selber lernt, wenn man aufmerksam ist. Ich habe etwa nie gelernt, sagen wir mal möglichst « ästhetisch » zu essen. Meine Eltern vertraten die Auffassung, dass man alles im Teller matschen kann wie man will und immer überall Ketchup raukütern kann, wenn es denn schmeckt. Das empfinde ich aber als soziales Unding, wenn man mit Leuten am Tisch isst, aus mir selber heraus. Der Mensch kann lernen, wenn er will. Er muss nur aufmerksam sein. Wie man jedoch das lernt? Keine Ahnung.

Ich bin mir nicht sicher, dass es mit sozialer Schicht zu tun hat. Da muss ich ein positiv schockierendes Erlebnis erzählen. Zu Weihnachten bin ich nach Paris geflogen und habe mich entschieden, vom Flughafen bis nach Hause mit dem Bus zufahren (statt mit RER). Der Bus fährt quer durch den « 93 » also die angeblich schlimmsten Vorstädten Frankreichs. Und doch: bei jeder Haltestelle musste ich feststellen, dass alle einsteigende Fahrgästen (mit sehr wenigen Ausnahmen) den Fahrer grüssten!! Sogar eine junge Frau war am Telefon als sie einstieg, ist nach vorne gegangen, hat ihren Fahrschein entwertet und ihre Telefonat unterbrochen, um den Fahrer zu grüssen!.. Ich konnte es nicht glauben. :smiley:

Ich habe den Eindruck,so schlechter die Zeiten,desto netter gehen die Leute mit ihrem direktem Umfeld um.
Zum Thema ,was oder wie man seinen Kindrern Werte vermittelt : Meine fr . Schwiegerfamilie denkt ich lasse alles durchgehen, und die
Familie in d denkt ich bin ein Diktator…
:open_mouth: :open_mouth: :laughing: :stuck_out_tongue:

Ich finde Dich sehr pessimistisch , souris.Ich denk ehrlich nicht , daß es heutzutage mehr unhöfliche Menschen gibt als früher.Flegel hat’ s von jeher überall auf der Welt gegeben. Ich bedaure nur, dass die Leute sich immer seltener angucken , anlächeln und miteinander sprechen , scherzen. ( Vielleicht haben smartphones und tablets die Schuld daran ).Hab immer öfter das Gefühl , daß sich viele meiner Mitmenschen in einer schizophränen Welt einsperren. Schade!

Du bist der erste Mensch, Michelmau, der mir sagt ich sei pessimistisch. :wink: Ich finde immer etwas Positives an einer Situation, denn alles was passiert ist für irgendetwas gut, nur man sieht es nicht immer sofort. :wink:

Ich finde es interessant was euch so aufgefallen/passiert ist. Habt ihr den Eindruck es hat sich im Gegensatz zu früher gewandelt? Sind die Werte vielleicht andere geworden? Und gibt es wirklich keine Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich?

Ich möchte Dir, Souris, gerne zustimmen. Grüßen, Tür aufhalten, Sitzplatz frei machen, scheint gerade nicht aktuell zu sein in Deutschland. Auch das Thema Müllentsorgung bleibt ein Problem. Ob sich die vorgenannten Punkte in der letzten Zeit negativ verändert haben, kann ich allerdings nicht beurteilen. Das können die Statistiker sicher besser. In meinem Wohnviertel grüßte man sich sonst auch, aber das gibt es auch nicht mehr. - Ich war jetzt fast 1 Jahr nicht mehr in Frankreich, in wie weit sich das Verhalten der Bevölkerung verändert hat, kann ich nicht beurteilen. Noch im letzten Jahr war ich aber über die Freundlichkeit angenehm überrascht, auch über ein deutsches « Danke » oder ähnliches.

In einem « sozialen Netzwerk » mit deutschen und ausländischen Freunden stelle ich allerdings eine sehr viel größere Freundlichkeit und Kommunikationsbereitschaft bei den Franzosen fest, die auch nicht nur oberflächlich ist.

Aber ganz große Bedenken habe ich bei den von Dir, Souris, angesprochenen Werten. Die « Blüten », die die aktuelle Berichterstattung über die Probleme in unserem Land und Europa betreffen, nehmen beängstigende Formen an. Welchen Meldungen kann man noch trauen, welche Zahlen sind richtig, wer objektiv berichtet, wenn ja von welchen Medien? Ich habe in französischen Medien Filmbeiträge über (angeblich) Deutschland gesehen, die einfach nur gefälscht waren. Unter anderem einen Filmbeitrag mit einer Aussage der deutschen Kanzlerin. Die Franzosen mussten sich auf die Untertitel verlassen, ich stellte fest, dass ich zwar eine Stimme höre, die sich wie die Stimme der Kanzlerin anhört, allerdings nicht zu den Lippenbewegungen passt. Auch der Hass in den Kommentaren über Andere ist extrem. In so fern möchte ich Deine im Betreff genannte Frage mit einem klaren « Nein » beantworten. Leider! Ich würde mich gerne irren!

Ich finde eher die gegenwärtige Meinungsbildung an den Medien vorbei beängstigend. Das, was man in den sozialen Netzwerken liest und was erschreckende Bewegungen wie Pegida auf die Straße bringt. Ich beobachte eher, dass die Medien seit einiger Zeit bei wirklich schwierigen ethischen Themen ziemlich professionell reagieren. Der Hass, das Misstrauen - das machen die Menschen von ganz alleine, u.a. weil sie sich für schlauer und kritischer halten. Welch Fehler.

Hallo Avonlea,
mit dem Begriff Medien meinte ich auch die « Sozialen Netzwerke ». Welche Blüten das treibt, sieht man jetzt wieder in Berlin in dem Fall des angeblich vergewaltigten Mädchens « mit den russischen Wurzeln ». Jetzt schaltet sich schon das russische Außenministerium ein. Wobei das Bildmaterial aus 2009 stammen soll und die angeblichen deutschen Polizisten schwedische Warnwesten tragen. Mein Chef, ein schon lange in Deutschland lebender Weißrusse riet mir, nur noch die Nachrichten von Euronews anzuschauen. Dieser TV- Sender würde nur berichten, aber nicht erklärend kommentieren.

Uiui, da machst du in der Tat ein riesiges Fass auf, vor dem ich mich fürchte. Ich möchte nicht, dass soziale Netzwerk zu einem Medium werden. Sie sollen Kommunikationsnetzwerke bleiben, wie das Telefon oder ein Brief. Was aber seit ein paar Jahren damit passiert, ist dass dort tatsächlich Nachrichten gemacht werden und das ist extrem gefährlich. Wenn sich jeder seine eigenen Nachrichten macht, sucht und kommentiert und das glaubt was er will, sehe ich schwarz. Die Verantwortung, das wieder zu schwächen, liegt aber klar beim Journalismus, der neue Wege finden muss, um wieder zur viel beschworenen Vierten Macht im Staat zu werden. Und das nicht nur, indem sie Fakten Fakten Fakten in die Welt hinausblarren, sondern indem sie das Geschehen besser, verantwortungsvoller und konsequenter auch für die dumme Masse kommentieren. Die Vielfalt der Medien ist kein Fortschritt, sondern eher ein Problem. Auch vor dem Hintergrund, dass Journalisten selber nicht mehr die Hellsten sein müssen. Ein paar gute Kontakte reichen ja schon, um irgendwo als Praktikant an die Hebel zu dürfen und das Internet zuzuschütten mit Praktikantennachrichten.
Aber das alles ist ein anderes Thema. Dafür bräuchten wie ein ganzes Forum…

Ich bin sowas mit dir einverstanden Avonlea… :top: Ich habe manchmal den Eindruck es geht um „Likes“ um jeden Preis. Mir macht das ganze etwas Angst denn da wird einfach alles, alles, alles aufgegriffen und man kann schon gar nicht mehr zwischen echten und gefakten Nachrichten Unterscheiden…

Zum Thema Werte noch mal. Wir waren gestern Abend zur Feier der Zeugnisse Essen. Im Restaurant waren einige Kinder und ihr könnt euch gar nicht vorstellen wieviele davon mit Tablets, Smartphones oder Nintendos vor der Nase da saßen beim Essen. Und ich meine wirklich beim Essen und nicht vorher oder nachher während der Wartezeit. Wie sollen diese Kinder denn mal Konversation lernen und einen vernünftigen Umgang mit ihren Mitmenschen? Ist natürlich für Eltern bequem in dem Moment aber ich glaube sie tun den Kindern keinen Gefallen damit… Brave new world…

Es kommt immer drauf an wo man sich befindet. In Deutschland wie in Frankreich auch, gibt es freundliche und unfreundliche Menschen. Das fällt gerade auf, wenn man an der Grenze wohnt. Was die Religion angeht sind beide Nationen nicht besonders gläubig, denke ich.

Grüß Dich , Trollf 1955 . Vielleicht wäre eine kleine Vorstellung willkommen. :mrgreen:

Mir ist in F mal aufgefallen das vergess ich nie als mir ein Junge die Tür in der Straßenbahn aufdrückte. In D werde ich das nie erleben. Und das einfach so. Ohne dass ich ihn drauf ansprach.