Juli 1992: Punkteführerschein legt Frankreich lahm

Es gibt diesen unbestimmbaren Punkt, an dem aus Müll Erinnerungen und damit etwas Wertvolles wird. Eine alte Zeitung beispielsweise. Irgendwo auf dem Dachboden zwischengestopft oder vergessen. Ich habe gerade eine vom 1. Juli 1992 vor mir liegen und die Markierungen und Vokabelnotizen auf Seite fünf der France Soir machen deutlich, worum es meinen Eltern ging: Die Protestaktion gegen die Einführung eines Punktesystem für Verkehrsverstöße in Frankreich vor 25 Jahren. Würden wir überhaupt mit unserem Wohnwagen und einer quengelnden Dreijährigen (Ich :mrgreen: ) aus dem Land kommen? Das war los:

Die Regierung Mitterand beschloss analog zu den meisten anderen europäischen Staaten, ein Punktesystem einzuführen. Während man in Deutschland 18 Punkte sammeln durfte, bis man seinen Lappen los war, sollte man in Frankreich nur fünf haben dürfen, beim sechsten hieß es: Adieu, le permis. Aufblenden oder weniger als 20km/h zu schnell: ein Punkt. Fahrlässige Körperverletzung, Vorfahrtsnahme oder gefährliches Überholen: zwei Punkte. Fahren ohne Fahrerlaubnis, fahrlässige Tötung oder fahren unter Alkoholeinfluss bringt drei Zähler. Das bedeutet, man kann sich theoretisch eine fahrlässige Tötung und einmal Raserei erlauben, bevor man bei einem dritten Verstoß den Führerschein abgeben musste.

Die Franzosen waren sich einig: Wir verlieren alle unseren Führerschein! Vor allem Berufskraftfahrer dachten gar nicht daran, sich etwa einfach an die Regeln zu halten, sie sahen ihre Existenz gefährdet. Was macht man in Frankreich dagegen, Mutterland der Revolution? Auf die Barrikaden gehen.

Das Problem im Juli 1992: Es gibt schon eine Gruppe, die auch auf die Barrikaden geht, nämlich die Landwirte wegen der gemeinsamen Agrarpolitik der EU, die in einer Änderung 1992 die Senkung von garantierten Preisen vorsah. Wenn zwei derart große Gewitterwolken zusammentreffen, kann man sich ausmalen, was passiert:

Ende Juni blockierten LKW-Fahrer und Bauern sämtliche Autobahnen des Landes, tausende die Strecke nach Süden und 400 Laster jene des Nordens bei Lille. In Pau verletzt sich ein Landwirt schwer an einer Tränengas-Granate, die er aufheben wollte. In Bayonne werden tausende Häute von toten Schafen verteilt. TGV-Strecken von Toulouse nach Paris und Nantes-nach Paris sowie Paris-Basel werden blockiert, Züge bleiben mitten auf dem Land stecken. Bäuerliche Gewerkschaften organisieren Demonstrationen in 90 Departements, selbst Piloten streiken und legen den Flughafen Grenoble lahm. In Nordfrankreich wird ein Zirkus Opfer der Staus, etwa hundert Tiere drohen zu verdursten, bis die Karawane schließlich von der Polizei nach Valenciennes eskortiert wird.

Der Transportminister Jean-Louis Bianco beschwert sich und bezeichnet die Streikenden als Geiselnehmer. Eine Karikatur der France Soir zeigt zwei sich prügelnde Streikende, einen LKW-Fahrer und einen Landwirt. Ein Dritter sagt: „Sie schlagen sich, um auszumachen, wer die Straßensperre begonnen hat.“

Ein Abgeordneter und Bürgermeister meldet sich zu Wort, den wir erst ein Jahrzehnt später richtig auf der politischen Bühne wahrnehmen: Nicolas Sarkozy, damals Maire de Neuilly-sur-Seine: „Es ist die sozialistische Doktrin, die in Frage gestellt wird. Nach der Reaktion der Berufstätigen zu urteilen wurde der Gesetzestext ohne Abstimmung vorbereitet. Ich bin verblüfft über die Skala der Strafen. Man muss streng mit Alkoholisierten am Steuer umgehen und Verkehrstote verhindern, aber dass man das Leben der Menschen vergiftet, weil sie statt Scheinwerfer Nebelscheinwerfer anschalten, das ist idiotisch, das ist sozialistisch.“ Anekdote: Für Geisterfahrer sind keine Punkte vorgesehen. Dieses Vergehen hat man im Katalog schlicht vergessen. Nachbesserungen sind jedoch versprochen.

Erst eine Woche später greift der Staat hart durch und setzt gar das Militär ein. Es ist Ferienzeit. Mittels eines Panzers wird eine Straßensperre in Phalempin, Nordfrankreich, aufgelöst, 300 Polizisten und Militärfahrzeuge werden auf der Autobahn A43 bei Lyon eingesetzt. Etwa zehn Blockaden können am Montag, den 6. Juli 1992 aufgelöst werden. Über 1.000 Schnellprozesse werden geführt, 164 Verhaftungen durchgeführt. In den Chefetagen der Gewerkschaften rollen Köpfe, dennoch zeichnet sich am 7.Juli ein Ende des Spuks ab: Man findet zusammen mit der Regierung eine Lösung für beruflich Fahrende und ändert das System von sechs auf zwölf Punkte, bis der Führerschein entzogen wird. Am 9. Juli schließlich werden sämtliche Blockaden aufgehoben, die Gesetzesänderungen treten im Dezember 1992 in Kraft.

Eine Notiz meines Vaters auf Seite fünf amüsiert mich besonders: Oben rechts steht: „durée?“. :laughing: Befristete Streiks? In Frankreich 1992? :laughing: :laughing:

Links:
:arrow_right: Die Figuren von damals: Tarzan
:arrow_right: Streikbericht in der Zeitung L’Humanité
:arrow_right: Video der Blockade in Marseille
:arrow_right: Nachrichtensendung 19/20 vom 6.Juli 1992, Die Streiks sind Meldung Nr. 2

Oh ja ich erinnere mich, obwohl ich damals kurzzeitig Frankreich untreu war… :blush: Wir haben die Ausdauer der Franzosen bewundert und den Mut für ihre Sache einzustehen. Schließlich haben wir ja auch öfter mal stundenlang in Bonn (ja, damals war das unsere Hauptstadt) für den Frieden demonstriert…

Das ist interessant.
Ich bin mit einer Freundin damals nach Frankreich getrampt und wir gerieten in den Streik und liefen die Autobahn lang.
Gibt es den Artikel noch?