Bleu, blanc et vert: Reisebericht Normandie 2016

Der schönste Ort der Normandie ist …

  • Trouville-sur-Mer
  • Deauville
  • Honfleur
  • Rouen
  • Etretat
  • Caen
  • Côte de Nacre
  • Cotentin
  • Mont St. Michel
  • ein anderer

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Ich bin zurück und bevor das Forum diesen Sommer verwaist, stelle ich schnell meinen Reisebericht ein. Ich gliedere es chronologisch nach Tagen und schreibe je nach Resonanz weniger oder mehr. Und damit ihr was zum Spielen habt, mache ich mal eine Umfrage dazu. Geht los! :sport:

Deauville, Trouville-sur-Mer, Honfleur

Bleu, blanc, vert – Das sind die Farben der Normandie. Man findet sie in diversen Kombinationen: Himmel. Wolken, Wiesen. Oder Meer, Klippen, Wiesen. Meer, Kuh, Wiesen. Fachwerk, Käse, Touques. Diese Reihe lässt sich endlos fortsetzen, aber immer ist Natur dabei, denn davon gibt es ganz schön viel, hier in Frankreichs Norden.

Der Samstag nach einer zehnstündigen Fahrt durch heftige Schauer endet mit Sonne, als wir die Grenze der Region Normandie erreichen. Hoch und runter geht es, hinauf auf Plateau und wieder hinunter. Zwischen Weizen- und Flachsfeldern mit leichtem blauem Flaum hindurch und immer wieder über Viadukte und Brücken, welche ihren Meister in der/dem Pont de Normandie finden, auf der sich die Seine bequem und spektakulär überqueren lässt. Die Normandie ist eine Landschaft der strukturierten Weite und genau das findet man hier, transferiert aus jahrhundertelanger Geschichte hinein in die Moderne des 21. Jahrhunderts. Selbst das Industriehafen-Moloch Le Havre strahlt in der Abendsonne, die hier noch so viel höher am Himmel strahlt als in Deutschland. Kein Wunder, müsste es doch eigentlich auch eine Stunde früher sein, so weit westlich ist man hier. Der Greenwich-Meridian trifft hier ganz in der Nähe, in Villers-sur-Mer, auf europäisches Festland.
5,40 € kostet der Pont-de-Normandie-Spaß für einen PKW, für Fußgänger und Radfahrer ist er gratis. Beim Anblick der schmalen Spur, die für sie reserviert ist, gleich zwischen dem Abgrund der Seine und der Weite des normannischen Himmels und vor allem mitten im Wind, ist das ein fairer Preis.

Das Ziel der Reise ist Trouville-sur-Mer, Sehnsuchtsort der Belle Epoque, von Künstlern, Schriftstellern, BCBG aus dem nahem Paris. So fungiert die Normandie als Garten von Paris und ich merke es gleich bei einem ersten Spaziergang kurz vor Sonnenuntergang am Hafen, welcher sich die Touques entlangzieht. Die Restaurants am Hafen sind voll mit gut aussehenden und gut gekleideten Menschen, jung, mittelalt, im besten Alter. Alles dabei. Sie sind laut und rauchen zierlich und sitzen vor auf den kleinen Tischen aufgebauten Etageren mit Meeresfrüchten, während die letzten Sonnenstrahlen hinter den Wolken das Schauspiel rosa und orange und lila illumiert. Das Meer ist sanft an diesem Abend, der Seewind warm und gütig stetig. Es ist Flut und die zahlreichen Möwen streiten sich in der Luft, während sie wie wild um Appartmentblöcke und Hotels am Strand herumfliegen.

Hier ist es schön, hier mag ich bleiben.

Sonntag. In Deauville heißt das Markttag. Die Schickeria in weißen Stoffhosen und großen Sonnenbrillen spielt Alltag und deckt sich an der Place de Morny, auf die die wichtigsten Straßen der Innenstadt zulaufen, mit teurem Gemüse und reichlich Marmelade und Käse ein. Drei Gläser Erdbeermarmelade für 15 €? Hier kein Problem. Ich frage mich, was das für Erdbeeren sein mögen. Die Sonne brennt vom Himmel und ein Hauch von Wind erinnert einen daran, dass es nur 19°C warm ist. An der Place de Morny findet sich auch das Café de Paris – natürlich. Man will sich ja als Wochenendgroßstadtmüder doch wie zu Hause fühlen. Und sollte einen auch der endlose Strand einmal langweilen, findet man Zerstreuung und Geldbeutelerleichterung in den endlosen Ladenzeilen der Innenstadt, unter schmuckem Fachwerk. Eine Interpretation der Normandie. Ein Stück Traumland, eingepflanzt in Sumpf, eingerahmt von Hügeln, gigantischem Hippodrom und Holzpromenade. Am ziemlich nahen Horizont droht Trouville, schaut auf Deauville herab, scheint zu sagen: Hier drüben ist die gute Seite, die authentische, die geschichtsträchtige. Und Deauville, das ist der Spaßpark für die Reichen. Hier zwängt sich eine Boutique von YSL in ein kleines, weißgetünchtes Fachwerkhaus und die Filiale des Kaufhauses Printemps stellt sich als bescheidener Eckladen dar. Bei aller Abgehobenheit: Schmuck ist es schon, dieses Deauville. Ein Feriendorf zum Schlendern und Schauen.

Es ist weit bis zum Meer, uns zwei trennt eine Uferstraße, die in der Vorsaison noch wenig befahren ist, ein bepflanzter Mittelstreifen, die zweite Spur Richtung Bénerville, das Kongeresszentrum, eine Lavendeallee mit grauem Steinboden und blauen Bänken, eine breite Reihe der berühmten Planches und schließlich ein schier unendlicher Strand. Es ist mal wieder etwas los in Deauville, im Bassin des Flots schaukeln seit Tagen die Rennbote der Skipper und heute laufen sie aus. Es ist die große Regatta Eric Bombard. Die Brücken sind hochgeklappt und unter dem Jubeln der etwa 100 Zusschauer entlang des Ausgangs fahren sie nacheinander aus, jeder der braungebrannten Sportler, die ein Hauch Luxus und ein Hauch Abenteuer umweht, bekommt seinen Applaus. Sie sammeln sich schließlich zwischen Strand und Horizont vor Deauville, um schließlich um Punkt 13 Uhr aber ohne hörbaren Startschuss loszusegeln. Wohin? Keine Ahnung. Die Plakate im Hafen und in der Stadt schweigen dazu. Weg ist weg. Wo der Sieger nicht in Deauville gekürt wird, wird er auch schnell wieder vergessen.

Es ist ein schönes Leben für den Flaneur am Strand von Deauville. Eine Boutique macht eine Fotosession für Brautmode, das Model steht mit dem schicken Kleid im Wasser, der Saum der Wellen färbt es langsam grün und sandbraun. Sie strahlt, die Sonne strahlt zurück, ein unhörbares Klicken der Kamera, nächste Pose. Menschen bücken sich und heben Muscheln auf, ein einziger Muschelfriedhof dort am Rand des Wassers. Einige kleine Kinder spielen, bauen Kanäle und drei, vier Mutige wagen sich in die kalten Fluten. Es tut ihnen gut, der wonnige Moment, indem einem die Kälte von grob gefühlten 18°C ihnen den Atem nimmt, hinterlässt ein schiefes breites Grinsen auf ihren Gesichtern. Schultern werden angespannt, Bäuche eingezogen, um noch eine weitere Sekunde zu entkommen, bevor man sich dann doch wagt und hineinplatscht.

Wo eine Scholle à la Normande 42 € kostet, sollte man zum Essen lieber weiterziehen und sich ein Plätzchen auf dem Teppich suchen. Das heißt hier in Trouville-sur-Mer, direkt gegenüber. Es gibt einen leichten Salat. Was in diesem Fall (wir sind in Nordfrankreich) bedeutet: Mit großen Scheiben Camembert, Bratkartoffeln und Pute drin, außerdem Crotons, die nach Karamel schmecken. Während wir eine dreiviertel Stunde auf das Essen warten müssen in dem kleinen Lokal, in dem die kleine Tochter der Besitzerin und Kellnerin in einem die Tische abdeckt und mit Stolz wacklige Weißweingläser durch die engen Reihen balanciert, hole ich mir den Sonnenbrand meines Lebens, als die Sonne immer weiter am Mittagshimmel dreht und so einen kleinen Teil meines leider uneingecremten linken Schlüsselbeins erwischt. Wir warten und warten. An den Nebentischen essen die jungen und mittelalten Städter noch Frühstück. Es ist 14:30 Uhr. Eine Zigarette dazu und ein Glas Wein und dann flanieren sie weiter. Wir warten und warten. Ein anderes Paar nimmt den Platz der Frühstücker ein und möchte wie wir das Menü des Tages für 15 €, aber - pardon, das Menü gibt es nicht sonntags – in unserem Fall und – pardon, die Mittagsküche schließt um 15 Uhr - . Kein Essen für sie, Salat für uns. Darunter ein Einweg-Tischset, schwarz mit weißen Lettern. Sprüche von bekannten Persönlichekeiten rund ums Essen. L’appetit vient en mangeant, la soif disparrait en buvant. Francoise Sagan.

Ein erstes Mal die Füße hochlegen vom vielen Laufen und auf dem Balkon der Residenz in den Hügeln oberhalb der Stadt Orangina schlürfen. Was zum Mittag am Hafen noch 4 € für 200ml kostete, sodass ich beschloss, zumindest noch das Glasfläschchen dazu mitzunehmen und als Blumenvase zu benutzen, kostet jetzt in 1,5 Litern nicht mal die Hälfte und schmeckt göttlich großartig, während mein Blick auf das bewaldete Tal fällt. Ich zähle die Häuser, die man ganz oder teilweise sehen kann: 23. Und ich schaue mir die Wolken an, wieder einmal. Weiß. Einfach nur weiß, ohne Schnörkel.

Am Abend sind die Füße wieder nutzbar und der Sonnenbrand versorgt. Ich kann mich gar nicht entscheiden, wie ich ihn zuerst behandeln soll, also lege ich in vier Schichten auf: Sonnencreme, Kühlgel, Zinksalbe und schließlich ein bisschen Puder, damit man ihn nicht so sieht. Honfleur steht auf dem Plan. Welch magischer Name, wie gut er auf der Zunge liegt und zur Côte Fleurie passt. Ich erwarte eine Fachwerk- und Schieferorgie, ein Haufen Touristen, schmucke Jachten und gutes Essen. Schließlich hatte und die Frau von der Ferienwohnungsvermietung empfohlen, den Hafen mit den Touristenfallen links liegen zu lassen und stattdessen in der Crêperie La Cidrerie zu speisen. Der Rundgang in der Abendsonne beginnt natürlich am Hafen und es ist lebendig dort. Die Lokale auf der Sonnenseite sind voller Menschen, während die auf der Schattenseite noch um Gäste buhlen. Die schmalen Schiefer-,. Backstein- und Fachwerkhäuser machen eine gute Figur. Den Touristen hinterher zwängen wir uns durch die Gasse hinauf zur Kirche Ste. Cathérine, welche vollständig mit Holz ausgekleidet ist. Sie wirkt bodenständig und gemütlich und versucht dem Holz etwas Göttliches abzugewinnen. Es gelingt nicht ganz. Der Kirche ohne Turm steht ihr Glockenturm gegenüber und er schlägt sechs, als wir ihn passieren. Leicht verwittert und von Geschichte zeugend und doch posaunt sie vor Kraft strotzend die Zeit in die Honfleur-Welt hinaus. Wieder schleichen wie aus dem Ei gepellte Wochenenddausflügler die Sträßchen entlang, Hand in Hand und erfreuen sich an ihrer eigenen Makellosigkeit und der Schönheit der Stadt.

Nach einer langen Runde über Kopfsteinpflaster und den Kopf im Nacken, den Finger am Auslöser der Kamera, speisen wir in der empfohlenen Cidrerie. Es ist fast niemand da. Es wird Galette aus Blé Noir mit Jambon gespeist und dazu trinke ich in meiner ganzen Stillosigkeit und Kindheitserinnerungen ein großes Glas Erdbeersirupwasser, das es scheinbar nur in Frankreich gibt. Es ist das beste Getränk der Welt. Gleich nach Orangina. Die Galette schmeckt wie Brot, nur ohne den Backvorgang. Als wir fertig sind, hetzt eine französische Familie herein und der Vater hetzt sie auch noch weiter, fragt die Kellnerin, ob es denn einen Fernseher gäbe. Als wir nach einer dreiviertel Stunde insgesamt die Crêperie verlassen, erstaunt uns das Bild der Straßen gleich zweimal: Es regnet in wenigen dicken warmen Tropfen und außerdem sind die Straßen menschenleer. Es ist kurz nach 20 Uhr und wie wir mittlerweile kombiniert haben, spielt heute Frankreich sein letztes Gruppenspiel. Das ist unsere zweite Begegnung mit der EM in Frankreich, die sich ansonsten sehr diskret verhält. Keine beflaggten Autos, keine Fans in Trikots. Die erste Begegnung war die Information, dass die Kroaten ihr Quartier oberhalb von Deauville im Parc des Loisirs bezogen hat.






SCHON zurück??? :open_mouth:

Jedenfalls ein schöner Bericht! :merci:

Nur eine Woche. Mehr als sieben Tage bin ich seit elf Jahren nicht verreist. :frowning:
Daher zählt die Intensität der Reise.

Ich bin auch schon seit über zehn Jahren nicht verreisst :frowning: :frowning: ,aber ich wohne da wo andere Urlaub machen,das hift ein bischen.

Pont l’Evêque, Beaumont-en-Auge, Beuvron-en-Auge, Roches Noires

Montag, es regnet in Strömen. Dicke Wolken hängen über dem Tal und lassen die Hügel um uns herum verschwinden und das Licht ergrauen. Was macht man bei Regen? Nicht ist keine Option, ebenso wenig wie Shopping. Ich erinnere an die saftigen Preis in Deauville und mein fehlender Chic, um auch nur zu einem Ladenbummel hereingelassen zu werden. Also bleibt nur, das Programm konsequent durchzuziehen.

Die Lösung heißt Autotour durch das Hinterland, in der Hoffnung, dass es der Regen nicht bis dorhin schafft. Dabei sehen die Aussichten nicht gut aus. An der Côte de Nacre: Regen. Rouen: Regen. Étretat: Regen. Und schließlich auch Caen: Regen. Was erst noch ein leichter Sommerregen ist, dem man mit einer Regenjacke beizukommen scheinen kann, entwickelt sich auf dem Weg nach Pont l’Evêque zu einem ziemlich starken Dauerregen. Die Scheibenwischer laufen auf Hochtouren und es ist fast schade, schon am ersten Besichtigungsort angekommen zu sein, da man nicht wirklich aussteigen möchte. Also beschließen wir, uns erstmal ein bisschen zu verfahren. Im Routard, welcher in der Büchersammlung der Feriensammlung steckte, steht dass die Stadt ein kleines altes Viertel hat, mit Fachwerk. Aber dieses Vaucelles ist zwar dauernd ausgeschildert in verschiedenen Richtungen, aber finden lässt es sich nicht. Als wir den Wagen schließlich auf einem gar kostenlosen Parkplatz mitten in der Stadt gegenüber des Touristenbüros abstellen und zu Fuß durch den Regen stapfen, entpuppt sich dieses Vaucelles als anderthalb kurze Straßenzüge und ebenso anderthalb kurze Kopfsteinpflastergassen. Ein flacher verregneter Bach bahnt sich einen Weg durch alt aussehende und riechende holzverkleidete Häuschen und verdeutlicht einem, dass das hier ein Blick in die alte Normandie ist. Man glaubt Mittelalter zu atmen, dunkle Räume in dunklen Hütten, die sich windschief an die Lebensader eines klaren Bächleins klammern. Ein Baum hängt hinein und trotz des Regens hat es seinen Reiz und fühlt sich echter an als das Deauville-Porträt oder die herausgeputzten Fischerhäuser in Trouville-sur-Mer.

Es war Markt in Pont-l’Evêque und sicher wurde auch der berühmte quadratische Käse verkauft, einer der ältesten der Normandie. Während die Wassertropfen ins Gesicht trommeln, lasse ich meinen Blick schweifen. Man merkt auf den ersten Blick kaum, dass 65% der Stadt im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden. Wo man sich in Le Havre für trutzigen Beton entschieden hat, setzte man hier auf Backstein und wiederum Fachwerk, was die Wunden sehr viel besser geschlossen hat, die der Krieg riss. Die drei Straßen der Innenstadt wirken lebendig, es sind trotz des Regens Menschen unterwegs in dieser Kleinstadt und zumindest zwei Touristen hat es auch herverschlagen. Auch die zerstöre Kirche St. Michel wurde wieder aufgebaut. Wie bei so vielen französischen Kirchen hat auch dieses Haus Gottes mehr als nur eine Tür, welche jedoch selten von einer Nicht-Tür unterschieden werden kann. Man öffnet und blickt auf Holz: „Das ist ein Wandschrank.“, wird befunden und eine halbe Tour um die Kirche gemacht, bis sich herausstellt, dass die Tür hinter diesem ominösen Wandschrank liegt, den man nur aufdrücken muss. Innen liegt ein großer, dunkler Raum mit Bibelgeschichten in den bunten Fenstern, angezündeten Kerzen und vor allem hinten links ein Monument für die Kriegsopfer, unterteilt nach Soldaten und Zivilisten. Es erschreckt aber verwundert nicht, dass die zivilen Opfer die der Soldaten um ein vielfaches in der Anzahl übertreffen. 1936 hatten hier gut 3.000 Menschen gelebt, zehn Jahre später waren es 330 weniger. Drei Tage dauerte der Kampf um die als Verkehrsknotenpunkt bekannte Stadt im August 1944, ehe sie von den Briten befreit wurde.

Wir setzten die Tour fort und biegen in die Landstraße nach Beaumont-en-Auge ab. Weiden und Apfelgärten säumen die verregnete und hügelige Straße des Pays d’Auge, Frankreichs idyllischer Garten. Hinter einer Kurve tauchte dann Beaumont auf, aber mit ihm auch eine noch dunklere Wolkenwand, die sich auf den Ort zuschob. Der Parkplatz vor der Kirche Saint-Sauveur steht unter Wasser. Durch den unaufhörlichen Regen hindurch schauen wir auf ein kleines, idyllisches Postamt daneben und blumenbeschmückte bunte Fachwerkhäuser. Jenes Haus mit dem hellblauen Fachwerk, das auf fast allen Fotos zu sehen ist, die man vom Ort findet, steht zum Verkauf.

Die Aussichtstafel wurde entfernt, so dass man sich selber einen Reim auf das machen muss, was man sieht von hier oben. Und das war: Dichte Regenwände, dampfende Hügel, ein kleiner Trampelpfad zu unseren Füßen und am Horizont statt Aussicht nur noch mehr Regen. Eine heimtückische weil wie simpler Matsch aussehende tiefe Pfütze macht meinen roten Wildledersneakern den Garaus. Fortan habe ich nasse Füße und einen schmutzigen Hosensaum. Ich muss an Gustave Flaubert denken, den großen normannischen Schriftsteller aus Rouen, der 1840 nach bestandenem Baccalauréat im November von einer ausgedehnten Reise nach Südfrankreich zurückkehrte und – ganz Rebell und Wutbürger obendrein - sich in einem Brief an einen Freund auch über seine Heimat ausließ: „Es kotzt mich an, in ein beschissenes Land zurückgekehrt zu sein, in dem man nicht mehr Sonne sieht als Diamanten am Hintern der Säue. Scheiß auf die Normandie und das schöne Frankreich! […] Ich hasse Europa, Frankreich, meine Heimat, mein saftiges Vaterland, das ich gerne zu sämtlichen Teufeln schicken würde, nachdem ich nun einen Blick ins Freie geworfen habe. Ich glaube, dass der Wind mich in dieses Drecksland geweht hat und dass ich woanders geboren wurde.“

Noch ein Versuch: Beuvron-en-Auge. Noch ein Stück weiter im Hinterland Richtung Südosten und am Horizont versproch es aufzuklaren. Man konnte einen leicht hellgraueren Wolkenton wahrnehmen. Doch auch in Beuvron: Regen. Einige Touristen schlendern um den Dorfplatz herum und fotografieren – na, was wohl? - einige der schmucken Fachwerkhäuser. Ein herausgeputzter Klimbimladen verkauft nur weiße Dekoration und Souvenirs. Die Gaststätten haben sich nach drinnen zurückgezogen und auch ein Hofladen hinter der Kirche, in dem es Confiture au lait, also dem Namen nach Milch-Konfitüre gibt, schließt gerade seine Pforten. Ein grün schimmernder Bach, der das Dorf umrahmt, scheint Mühe mit dem vielen Regen zu haben.
Beuvron ist als Blumendorf mit vier Sternen bzw. roten Blumen ausgezeichnet und tatsächlich scheinen die Blumenampeln überzuquellen und auch die Ränder der einigen zwei Straßen sind schön bepflanzt. Ansonsten aber herrscht gähnende Leere, es gibt hier nichts. Plötzlich auch keine Touristen mehr. Verschlossene Türen in der Calvados-Verköstigungsanlage mit dem riesigen Parkplatz davor. Verwaiste Picknickbänke zwischen Apfelbaumwiesen. Es muss ein hübscher kleiner Ort im Sommer sein, ein Sammelpunkt für Touristen, die wohl dosiert Idylle schmecken möchten. Aber an diesem regnerischen Montag ist es nicht mehr als gähnende Langeweile.

Zwei Straßen führen wieder hinaus Richtung Küste und eine war blockiert von einem Auto, das sich am Straßenrand aufs Dach gelegt hatte. Passiert war wohl nichts, die Beteiligten standen am Straßenrand, als die Feuerwehr eintraf und die Straße sperrte. Dass ein solcher Unfall jedoch passiert, ist keine Überraschung. Die Straßen sind eng und die Autos schnell. Ein Abbremsen vor der Kurve scheint hier nicht nötig. Runde Schilder weisen immer wieder auf Tempo 70 hin, auch mit dem berühmten „Rappel“, der Erinnerung an diese Höchstgeschwindigkeit. Wer hier jedoch 70 fährt, schafft es nicht weit und schon gar nicht um die nächste Kurve.

Um halb drei waren wir zurück in Trouville-sur-Mer und hin und wieder hörte es auch auf zu regnen und für einen erlösenden kurzen Moment. Den Nachmittag verbrachten mit der Regenwanderung zu den berühmten Roches Noires. Jenen schwarzen Felsen, die am nordöstlichen Ortsausgang von Trouville liegen und welche nur bei Ebbe zu sehen sind. Wo genau sie jedoch liegen, wussten wir nicht. Hoch und runter spazierten wir durch die Stadt, als einzige Fußgänger weit und breit. Ein schöner Anblick bietet sich trotz grauen Wetters auf die Ferienvillen mit den verzierten Erkern und kühnen Dächern. Man muss am Yachtclub vorbei, in dem ein Jugendlicher in Badehose durch den Regen hin und her lief, auf der Suche nach etwas, im Zweifel nach seinen regendichten Klamotten. Hunde sind verboten am darauf folgenden Strand, aber das kümmert eine Hundenation wie Frankreich nicht. Hunde kommen hier überall mit hin. Sie liegen in den Restaurants auf Stühlen neben ihren Herrchen und sie wandern Klippen mit hoch, unter sengender Sonne und bar jeglicher Vernunft der Zweibeiner. Ihre Hinterlassenschaften verminen jeden Fußweg und die neuerdings aufgestellten Beutelstationen scheinen nur als kostenlose Gefrierbeutelspender zu fungieren. Der Hund ist König. So auch an diesem Strand.
Am Ende der Kräfte tauchten am Ende des Weges endlich aber doch die Roches Noires auf und gaben selbst im Regen ein majestätisches Bild ab. Bekannt sind diese Felsen jedoch wegen des gleichnamigen Hotels, in dem seinerzeit, Berühmtenheiten wie Marcel Proust und in den 1960ern, als es schon kein Hotel sondern nur noch ein Appartmenthaus war, Marguerite Duraus gewohnt haben. Und auch diesem Montag standen noch teuer Autos vor dem Haus, hinter dem Gitterzaun und mit dem Zweifel, dass man von hier tatsächlich auf die gleichnamigen Felsen schauen kann, welche weit hinter der Biegung liegen.

Meine Schuhe hatten sich eine Sitzung der verschwenderischen Stromheizung nun endgültig verdient und sicherheitshalber schalteten wir auch gleich die Handtuchheizung an. Man weiß man nie, was der Himmel noch alles an Gutem von oben zu bieten hatte in den kommenden Tagen.




Wunderschön dein Reisebericht Avonlea, schöne Fotos und sehr gut geschrieben . Dein Schreibstil ist wie gewöhnlich sehr angenehm und generös zu lesen. Mein Wissensdurst von Erzählungen von normalen Leuten,die mit ihrer Muttersprachen spielen können und wollen, ist befriedigt, wenn ich dich lese… Zwar brauche ich einige Zeit um dich wirklich zu lesen, aber es lohnt sich. :wink:
Hast du nicht versucht, einen echten Reiseführer zu schreiben??? Auch wenn Normandie die Lieblingsgegend meines Landes ist, habe ich deine Erzählung sehr geschätzt :clap: :merci:
Danke für die Zeit, die du verbringst hast, um diesen detaillierten Bericht mit Fotos zu schreiben.

Danke für Deinen herrlichen Bericht über das Land des Camembert, des Cidre, der Schriftsteller und der Sandstrände :top:

Ich kann in Herrlichen Erinnerungen schwelgen, die mir seinerzeit ein Weihnachtsfest einbrachte, wo wir vor der Familie nach Trouville geflüchtet sind. Gerne lesen und sehen wir mehr.

Merci, Valodk und Jollylolly! :ange:
Es geht weiter:

Der nächste Tag war für die Landungsstrände fest eingeplant, Wetter hin oder her. Aber auch hier versprach der Wetterbericht mehr als die nasse Realität draußen. Es hieß, es gebe Schauer, würde aber gegen Nachmittag aufklaren. Meinen Schuhen hatte die Nacht auf der Heizung sichtlich genossen, aber da ich ob der unsichtbaren Lecks wusste und zweifelte, ob ich sie nochmal dem Regen aussetzen sollte, bangte ich um meinen Reisegenuss. Eine Notlösung aus dem Hyper U gab es nicht in meiner Größe und ich hatte draufgängerische Barfußfantasien, ich gegen den Matsch in direktem Kampf, zum Schutz der schicken Sneaker. Selber schuld, ich hätte nicht nur herumtönen sollen, Ölzeug und Gummstiefel einzupacken, sondern es auch tun sollen. Aber manchmal muss man die Dinge auch einfach auf sich zukommen lassen und so brachen wir zwar im Regen auf, landeten aber fast trocken und warm in Arromanches-les-Bains.

Man biegt von einem weizen- und flachsbewachsenen Plateau hinab in den Ort. Und da sieht man sie schon: D-Day-Touristen. Ihre Busse stehen etwas außerhalb des Ortes auf kostenlosen Parkplätzen und ihre regenbejackten Insassen älteren Datums spazieren durch das Feriendorf, auf den Spuren der Vergangenheit ihrer Verwandten und in ganz seltenen Fällen noch auf ihren eigenen.
Das Zentrum bildet ein kleiner Platz mit Aussicht auf das Meer vor dem Kriegsmuseum, der als Parkplatz genutzt wird. So parken heute Autos zwischen als Monumenten ausgestellten Panzern und Kanonen der Alliierten. Arromanches-les-Bains trägt Fahnenschmuck, britische, amerikanische und auch kanadische Flaggen bewegen sich leicht im Wind. Die Restaurants überbieten sich gegenseitig mit ihren Namen und es erstaunt, dass jeder einen finden konnte: Le 6 Juin. Overlord. D-Day. Jour J. Mulberry. „Mulberry B“, das ist schließlich jenes Mahnmal, für das sie alle hier sind. Es handelt sich dabei um einen künstlichen Hafen, den die Alliierten kurz nach der Landung im Juni 1944 angeschwemmt hatten, um hier weiteres Material auf das Festland bringen zu können. Eine enorme logistische Leistung, deren Ausmaße noch heute deutlich werden, wenn man die verstreuten, dunklen Pontons, die sich bis zum mittleren Horizont erstrecken, betrachtet. Nötig geworden war diese ungewöhnlich erscheinende Anlage, weil die Nazis hier an der Küste keine Lücke im Atlantikwall zuließen. Häuserreihen in Arromanches und benachbarten Orten waren geschlossen worden. Einen richtigen Hafen gibt es in Arromanches auch heute noch nicht.
Es macht betroffen, diese Überreste der dunkelsten Zeit des 20. Jahrhunters dort liegen zu sehen, mitten in einer Urlaubsidylle aus hellblauem, fast klaren Wasser. Einem Stück malerischer Steilküste am westlichen Ortsrand. Einem schlossähnlichen Anwesen am östlichen. Ein Stehpaddler testet des beinahe wellenlose Wasser. Es darf nie wieder Krieg in Europa geben. Das ist hier wohl ein häufiger Gedanke der Betrachtenden und er ist in einer Wandmalerei gegenüber des Hôtel de Normandie verewigt: Zwei Kinder strecken sich und schreiben die Worte „Please no more war“ daran, darunter noch ein „Love“. Ihre Füße stecken in einem Mohnfeld. Dass darüber ein Schild hängt mit dem Hinweis „Bar – Glaces“ hängt, erscheint hier wie eine wunderbare Auftragsbestägigung. So sehr man auch auf Kommerz und Konsum schimpfen mag: Ein gigantischer Fortschritt und Ausdruck von Freiheit ist es allemal.

Wir speisten in besagtem Hôtel de Normandie mit beheizter Holzterasse. An den Nebentischen: Briten, Amerikaner, Niederländer. Es erscheint wir erneut wie ein Wunder, dass wir hier zwar nicht beisammen, aber friedlich nebeneinander sitzen können und dürfen, und das obwohl die Mehrheit von ihnen gerade auf den Spuren ihrer Familie wandert und wohl überwiegend auch Verwandte verloren hat, an die Vorfahren der Deutschen am Tisch nebenan, die Limonade trinken und Berge an Pommes in sich hineinfuttern. Wir absurd das aussieht und wie wunderbar es doch ist.

Unter meinem Teller und daneben dem großen Glas Limonade: Ein Papiertischset mit einer Karte der Landungsstrände und auf der Rückseite für die Kinder ein Strand mit Panzern und Bombern zum Ausmalen.

Gesättigt fuhren wir die Küste entlang zum berühmtesten Strand der Landung: Omaha Beach. Wie kein anderer Strandabschnitt steht dieser für die glorreiche aber auch verlustreiche und beschwerliche Landung. Hier war der umkämpfteste Strand und hier fügten die Nazis den anlandenden Amerikanern den größten Schaden zu. 3.000 Tote am ersten Tag blieben am Strand zurück. Während die Soldaten beschwerlich durch die Brandung waten mussten, hatten die Nazis oberhalb des Strandes leichtes Spiel und mussten nur schießen. Man kann von oben, weit oberhalb der Böschung auf einer Anhöhe, weit schauen. Hinaus auf das Wasser und bis in die nächsten Orte. Heute, an diesem mittlerweile sonnigen Nachmittag, an dem ein paar Familien Sandburgen bauen und ihre Füße im Schlick vergraben, wirkt dieses Stück Erde majestätisch. Vor 72 Jahren war es die Hölle. Mehrere Erinnerungssteine erstrecken sich mit den Namen der Gefallenen weit in den Himmel. Zu ihren Füßen: Überreste der deutschen Stellungen. Daneben: Eine Wiese mit Blumen vor Stacheldraht und dahinter karamellfarbene Bilderbuchkühe mit fantastischem Blick auf das Tal im Osten und die Unendlichkeit des Wassers. Die Landschaft macht einem den Spagat zwischen Erinnern und Genießen leicht. Ich staune wie leicht. Man muss erinnern, aber man muss auch weitermachen. Wahrscheinlich war hier auch vor dem Krieg schon eine Kuhwiese und vorher spielten auch Kinder im Sand. Warum sollte man also sechs Jahren Krieg mehr Raum zugestehen als nötig?

Oberhalb des Strands betraten wir amerikanischen Boden. Menschenmengen wie auf einem Vergnügungspark stürmten bereits heraus, zurück zu ihren Autos und Bussen. Er hat den Eindruck eines schönen Gartens, dieser Soldatenfriedhof. Das Erinnern, Gedenken und Trauern an diesem Ort ist ein anderes als auf den Friedhöfen, die ich kenne. Es ist hell und hinter den unzähligen wei0en Marmorkreuzen schimmert blau das Meer herauf. Es gibt eine Open-Air-Kirche, in dem gerade ein Gedenkgottesdienst stattfand und wir vorsichtig über den Kies drumherum spazierten. Es stehen keine Geburtsdaten auf den Kreuzen und Sternen – über 9.200 christliche Kreuze und etwa 150 jüdische Sterne - , nur Name wenn bekannt, Herkunftsort und militärischer Rang. Alles wirkt wie ein Kunstwerk, eine Installation, ein Monument zum Gedenken der Schrecken und gleichzeitig wie ein Denkmal des Sieges. So viele sind gestorben, aber gesiegt haben sie doch und dafür muss Europa so dankbar sein.

Es gibt noch ein Erinnerungszentrum auf dem Gelände, in dem Lebensgeschichten der Gefallenen erzählt werden und auch immer wieder deren Namen verlesen werden. Mehr Demut kann man kaum erzeugen. Am Eingang gibt es Taschenkontrollen und ich entschließe, dass ich das nicht mitmachen möchte. Alles sträubt sich in diesem Moment dagegen, mir meine Handtasche durchsuchen zu lassen, in der sich natürlich nicht Verdächtiges befindet. Aber rückblickend war das wohl nur ein willkommener Anlass, um nicht hineingehen zu müssen. Dieser Ort hat seine Funktion bereits übererfüllt und mit ein wenig Erleichterung verlassen wir ihn wieder, um in die sonnige Gegenwart zurückzukehren.




Danke für den interessanten ausführlichen Bericht mit den schönen vielen Bildern von einer Gegend , die mir besonders am Herzen liegt. :wink:

Gerne doch, Michelmau.
Ich schiebe den vorletzten Teil auch gleich hinterher. Alles muss ja auch ein Ende haben. Seid froh, dass ich nicht vier Wochen verreist bin. :party:

Mittwoch und es soll der schönste Tag der Woche werden. 22°C warm und sonnig. Perfekt für eine ausgedehnte Wanderung und Fotosession in Étretat.

L’Étretat, c’est moi, vermögen die weltberühmten Kreidefelsen förmlich zu schreien. Als wäre der Ort dahinter nicht existent, dominiert die Steilküstenformation sämtliche Fotos, Erinnerungen und auch Kunstwerke. Fotos und Erinnerungen schufen wir selber, die Kunst war schon da. Als Garten von Paris kamen Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts auch die Künstler leicht nach Paris, um hier ein bereits verändertes Licht zu erleben und das Malen im Freien zu kultivieren. Der Impressionismus wurde hier erfunden, als Claude Monet den Hafen von Le Havre im Sonnenaufgang malte. Le Havre damals noch in seiner ganzen alten Pracht, lange vor Krieg und Zerstörung und Wiederaufbau mit Beton. Étretat ehrte Monet hingegen mit einem Sonnenuntergang. Ein kleiner orangener Ball im goldenen Schnitt neben der Pont d’Aval, dem berühmten Elefanten, der seinen Rüssel ins Meer hält und einem einsamen spitzen Kalkpfeiler dahinter. Es ist ein farbenfrohes Meer vor Étretat, auf diesem Bild, und bunte Wolken hinter dunklen Felsen, die Monet hier verewigt hat. Einen ebensolchen Sonnenuntergang würden wir an diesem Mittwoch nicht erleben, dafür aber hoffentlich Sonne und weiße Felsen vor tiefblauem Wasser.

Étretat ging den Weg so vieler Küstenorte in Frankreich, im Norden wie im Süden am Mittelmeer: Einige Ausspähameisen wagen sich her, immer in Form von Künstlern, Schauspielern, Schriftstellern und aus dem Geldadel, und wenig später kommt die Austern schlürfende und Champagner trinkende Armee hinterher. Die Bahn wird herverlegt, im Falle von Étretat 1893, und nach Kriegen und gesellschaftlichen Umwälzungen kommt der ganze Rest: Touristen aus allen Ländern der Welt und Ausflügler in Bussen und mit schlechter Kondition, die auch ihren Stück vom Kuchen abhaben möchten. Einmal die Klippen hoch, runtergucken und fotografieren, sich einen Sonnenbrand holen von der ersten Sommersonne des Jahres, und dann unten im Ort Pizza und Eis essen.

Wir waren keine Ausnahme, in allen Punkten der Anklage. Die Luftfeuchtigkeit war noch hoch, als wir die steilen Treppenstufen hoch in Richtung Falaise d’Amont erklimmen und dachten, dass dies der Elefant sei, nur eben bei Flut, was bedeutete, dass man den Bogen kaum noch erkannte. Der Elefant ist hingegen die Falaise d’Aval am anderen Ende des Ortes. An der Seefahrerkirche vorbei und ebenso an Wiesen mit – wie ich vermutete – glücklichen Kühen, kann man ein Stück nach Yport gehen und hinter jeder Biegung der Felsen einen neuen Blick auf sie erhaschen. Auf Möwennester auf kleinen Vorsprüngen und bunte Blumen am Rand des Wahnsinns, deren Trittspuren Menschen vermuten lassen, die dem Wahnsinn ebenso nahe sein müssen, wie sie den Felsen sein wollten. Vermutlich mit der Nase hinter der Kamera und verzerrter Perspektive. Unten an einem schmalen Strand saßen Menschen, worauf uns eine Schwäbin aufmerksam machte, die unser Gespräch mit angehört hatte, ob man da wohl runterkönne auf einem gewöhnlichen Weg, also außer geradewegs in die Tiefe.

Man sollte sich nicht verleiten lassen, zu weit nach Yport zu gehen, wenn man die Falaise d’Aval auch noch sehen möchte. Denn auch dieser Weg ist steil und lang und die Sonne schien an diesem Tag erbarmungslos. Als machten wir kehrt und besichtigten noch kurz den alten Flugplatz hinter der Kapelle. Ein Denkmal erinnert an Charles Nungesser und Francois Coli, die Ende 1920er-Jahre von hier oben aus versuchten, mit einem Flugzeug den Atlantik zu überqueren. Dies gelang nicht, auch wenn man Flugzeuge und Leichen nie gefunden hat.

Man könnte die Promenade von Étretat als die steilste der Welt bezeichnen. Zwischen den beiden Falaises hat man kurz einen Blick auf Boote, die hier an Seilen auf eine Schräge gezogen werden und auch Touristen auf Tuchfühlung mit dem Meer. Und wie verlockend verbotene Ding sind! Ein Schild macht darauf aufmerksam, dass man aus Erosionsgründen keinen Kiesel mitnehmen darf. Das Bild einer durchgestrichenen Hand, die ein schwarzes Etwas hochheben möchte, deuten einige Besucher jedoch offenbar als Verbot, die Hinterlassenschaften ihres Hundes aufzusammeln und zu entsorgen. Denn auch hier bevölkern die Vierbeiner Strände trotz Verbots und auch mitwandern müssen sie, wenn die Herrchen mal ein Blick von den Felsen nach unten werfen möchten. Das Schild als Hundekotmitnehmverbot deutet auch ein Tourist, der sich die Tasche voll mit Steinen stopft und erst hinterher von seiner Freundin auf das Schild aufmerksam gemacht wird. Zurückgebracht wird natürlich nichts, sondern die Tasche schön fest verschlossen. Erosion, Sturmflut, hier? I-wo! Beim Pizzaessen hängt ein Schwarzweiß-Foto an der Wand, von Wellen, die hoch über die Promenade klatschen und zu verstehen geben, dass vielleicht die Felsen ihnen trotzen mögen, aber sicher nicht die Menschen.

Falaise d’Aval. Gleich hinter der ersten und letzten Treppe neben den Schießbunkern der Deutschen blickt man zur Linken auf den vielleicht schönsten Golfplatz der Welt. Und gleichzeitig denke ich, wie dekadent es ist, hier noch Golf spielen zu wollen, wo der Anblick des Meeres schon genug Zerstreuung bietet. Foto an Foto reihte sich meine Galerie in der kleinen Knipskiste und der Weg war auch gesäumt von wartenden Möwen, die scheinbar hier regelmäßig Futter von den Touristen bekommen. Die Felsen schäumen Wasser auf, was widerum Möwen anzieht, „les goélands“, die neugierig hinfliegen und sich auf das Wasser setzen. Am Horizont meint man die Erdkrümmung sehen zu können und ein Blick in die Krümmung des Dorfes Étretat könnte französisch und symbolhafter nicht sein: Ein rotes und ein weißes Segelboot fahren in tiefblauem Wasser umher. Da ist sie, die echte Trikolore, wobei das Vert auch hier noch ausreichend vorhanden ist.
Wie schon auf der Falaise d’Amont muss man irgendwann einen Schlusspunkt setzen und entscheiden, genug Klippen gesehen zu haben. Genug Fotos gemacht, genug von einem Stück Rasen über den Schlamm in der Mitte zum anderen Stück Rasen gestolpert und beinahe weiter schnurstracks über die Klippe gehechtet. Genug über winzige Kaninchen gestaunt und einen Schritt weiter seltsamerweise über wilden Kohl. Wer wohl zuerst da war, das Huhn oder das Ei?

Wieder am Strand angekommen gönnte ich mir ein Fußbad. Akrobatisch stieg ich durch die Kiesel hindurch mitten in eine Welle hinein. Es waren gefühlt minus 1.050 °C, tatsächlich aber wohl 15°C. Ich freute mich nun, dass ich mich nicht ärgern musste, keine Badesachen eingepackt zu haben. Somit stand fest, dass die ausgelassene Badeszene, die Eugène Le Poittevin aus dem Jahr 1858, die er malerisch festgehalten hat, nicht an einem solchen Junitag stattgefunden haben kann. Niemand würde an diesem Tag einen Heuwagen ins Wasser ziehen und einen Kopfsprung ins Nass wagen.
Im Ort gönnten wir uns Eis für zwei Euro pro Kugel. Minze und Zitrone und im Auto ließ ich einen ganzen Liter warmes Wasser in mich hineinlaufen und es war das beste Wasser der Welt.





:merci: :knuddel:

Ich bin begeistert und schon auf den letzten Teil gespannt, aber die Tricolore sah auf jeden Fall schonmall nach Sommer aus, ebenso wie die Klippen bei L’Étretat.

So, jetzt der Rest und das quasi exakt eine Woche nach dem Besuch auf Mt. St. Michel, hier der Bericht.

Mont Saint-Michel

Der letzte Tag, Freitag. Es soll der sonnigste Tag der Woche werden und das war er auch. Zwar hatte es in Avranches an der Bucht des Mont-Saint-Michel noch kurz vor unserer Ankunft geregnet und gewittert, aber alles war abgezogen und machte der Sonne Platz, als wir ankamen. Von der Autobahn aus kann man den magischen Berg an einer einzigen kurzen Stelle sehen und das hat seinen Grund sicher auch in der Verkehrssicherheit.

Ein Berg, ein Mythos.

Auf das Festland hat man vor einigen Jahren einen neuen Parkplatz gebaut und im Zuge der Rückbildung des Mont-Saint-Michel als Insel verschwand auch der Damm und wurde durch eine Brücke mit Holzbürgersteig ersetzt. Zweimal im Monat soll der Berg so bei Flut wieder vollständig von Wasser umschlossen sein. Zum Abtragen des angesammelten Schlicks in der Bucht beitragen soll ein Stauwerk, das man an die Mündung des kleinen Flusses Le Couesnon gebaut hat. Zweimal täglich kurz nach dem Tiefststand der Ebbe werden die Schleusen geöffnet und der Sand durch die Wucht des Wassers zurück ins Meer gespült.

Drei Kilometer wandert man vom Parkplatz bis zum Berg. Wer nicht wandert, lässt in doppelköpfigen Bussen hertransportieren oder kann einen Platz in einer Kutsche kaufen. Beides soll so umweltfreundlich wie möglich fahren und um Pferdeäpfel auf der Straße zu vermeiden, hat man spezielle Taschen angebaut, in die der Kot direkt fallen soll. Nichts soll den Genuss des Wanderns stören, wenn der Berg immer größer und mächtiger wird und man rundherum vierzehn Meter Tidenhub bestaunen kann. Hier draußen hat man noch seine Ruhe, da scheinbar die wenigsten der Besucher den Weg per pedes wählen. Am Straßenrand fotografiert eine Japanerin mit Stativ ihre Reisebegleitern und ist sichtlich unzufrieden mit deren Pose. Immerhin ist das hier der Mont-Saint-Michel, die nach dem Eiffelturm am häufigsten besuchte Sehenswürdigkeit Frankreichs. Hierher kommt man als asiatischer Tourist einmal im Leben und bringt nur wenig Zeit mit. Ich hingegen kann es mir leisten, lauter unperfekte Fotos zu machen und ganz in Ruhe der Schulklasse zu lauschen, die barfuß durch das Watt stapft und schon aus der Ferne am Juchzen zu erkennen ist. Ich kann mir ganz gelassen die Schafe anschauen, die auf salzigen Wiesen grasen und auch in der Ferne versuchen Orte wie Genêts oder Avranches auszumachen. Der Wind ist allerdings kühl, ich legte mir einen Schal aus dem Auto um die Schultern.

Die Ruhe ist vorbei, wenn man den Vorplatz des Bergs betritt. Hier parken Wagen, die etwas anliefern und hier sitzen auf dem markanten Felsen links neben des Haupteingangs schon aus der Ferne erkennbar weitere Schulklassen. Ich bedauere in dem Moment, dass meine Klassenfahrten nur in den Harz und nach Schleswig-Holstein gingen. Ein Spektakel wie dieses Weltwunder war da weit und breit nicht zu sehen.
Alles drängt sich drinnen den Berg hoch, zwischen ausladenden Souvenirshops und Restaurants hindurch, die mit ihren Markisen der kleinen Gasse die letzte Sonne nehmen. Oben, da ist das Kloster und man erkennt es bereits an der langen Schlange. Eine Deutsche mault vor uns herum, weil sie unbedingt ein Foto von der Treppe ohne Menschen machen wollte. Welch frommer Wunsch, aber dafür gibt es diesen entweltlichten Ort des Klosters ja, mitten in einem Ort des Kommerzes, eine sonderbare Kombination.

Wir waren froh, die Länge der Schlange nicht erahnt haben zu können, sonst wären wir vielleicht hineingegangen. Eine halbe Stunde in etwa dauerte die Prozedur über Treppen hinweg und mehrere Gänge lang. Auf der Gegengerade konnte man die Glücklichen, die schon eine Karte hatten und rein durften, bestaunen wie auf einem Catwalk. Ich bildete mir ein, dass sie glücklicher schauen müssten, nach dieser Prozedur des Wartens, aber ein Blick der Freude und Erlösung sah ich in ihren Gesichtern nicht. So nutzte man das Warten und das langsame Voranstreiten für ein Telefonat mit der Heimat, um dann zu erfahren, dass Großbritannien es geschafft hat, sich aus der EU auszuschließen. Was für eine Überraschung! Ich fragte mich, ob man jetzt nicht auch kurzerhand die Briten vor uns aus der Schlange entfernen könnte. Wir wären schneller drin gewesen.

Das Warten hat sich jedoch gelohnt. Über verwinkelte Plattformen und Gebetsräume geht der Besucherweg und man hat in jedem Raum etwas zum Anschauen, oft genügt die Aussicht vollkommen. Wo der Luxus um nüchternen Kloster fehlt, so findet sich der Prunk in der Aussicht aus den Fenstern oder von Ausgängen und Plattformen. Hoch und runter, vorbei am Kreuzgang, der diesmal fast menschenleer ist und tatsächlich einige Fotos ohne Fremde darauf erlaubt, und schließlich hinein in ein Stück des Klostergartens gehen wir, zusammen mit Besuchern aus unzähligen Ländern. Die meisten Sprachen jedoch, die ich höre, verstehen ich auch tatsächlich und das freut mich. Etwa 40 Einwohner hat der Mont-Saint-Michel heute, die meisten sind Mönche. Sichtbar ist an diesem Tag keiner von ihnen und ich frage mich, was sie wohl davon halten, dass ihr Zuhause zu den meistbesuchten Orten Frankreichs gehört und es daher ganz sicher kein ruhiger, weltentrückter Ort ist. Danach denke ich wieder, dass sie um diesen Besucherandrang wissen müssen, wenn sie dieses Kloster wählen und dass sie trotz allem immer noch das Privileg spüren müssen, hier leben und beten zu dürfen.

Auf dem Weg zurück bedauere ich, keine Augen im Hinterkopf zu haben, um nun auch beobachten zu können, wie wir uns langsam von diesem magischen Berg entfernen. Immer noch marschieren Schulklassen quietschvergnügt durch das Watt, und das Wasser hat seinen Tiefststand noch nicht erreicht. Noch einmal drehe ich mich um und fotografiere durch das Gras und den duftenden Klee am Wegesrand hindurch den Mont. Es ist wie mit Fotos vom Eiffelturm: Sie sind unzählig und man glaubt alles zu kennen. Wie langweilig. Und dann fährt man hin und hat das Bedürfnis, auf jedem zweiten Foto den Eiffelturm festzuhalten. So ist das auch mit dem Mont-Saint-Michel. Man kann einfach nicht glauben, was man da sieht und denkt es wird realer, wenn man es festhält für alle Ewigkeiten. In Pixel und Datei.

Nach einer Woche Gewaltmarsch sind meine Füße nicht mehr zu gebrauchen. Es reicht noch am Abend für einen letzten Spaziergang hinunter zum Hafen in Trouville-sur-Mer, um die Chance auf den letzten Sonnenuntergang wahrnehmen zu können. Und – bingo – die Sonne war nie schöner. Die Bars und Restaurants haben sich wieder mit vergnügungs- und erholungssüchtigen Hauptstädtern gefüllt, die Tonnen an Meeresfrüchten in sich hineinstopfen und offenbar gar kein Auge haben für das goldene Licht, das rasend schnell Richtung Meer fällt, noch einmal den Punk des Casinos illuminiert um dann aus dem Strand bei Ebbe ein Spiel aus Farben und Glitzer zu machen. Orange, lila, blau leuchten die wenigen Wolken und das Wasser in den Prielen glänzt weiß wie ertappt. Ich hatte noch nie die Sonne im Meer versinken sehen und dieses Schauspiel um kurz von 22 Uhr war der allerschönste Moment der Reise. Und vor allem: Dieses Glück ist gratis. Auch lange nach Sonnenuntergang verändert sich der Himmel permanent und ich habe Mühe, mich auf dem Weg zurück, dem letzten Weg zurück zur Pension, nicht mehr umzudrehen. Wenn man sich umdreht, kommt man nicht mehr zurück, heißt es. Aber es gibt so viele Orte, an denen ich mich nicht umgedreht habe und die ich dann nicht wiedergesehen habe, dass ich das nicht glaube. Am Ende bereut man es doch, also schaue ich über die Schulter hinweg so lange zu wie möglich und lausche den Möwen ein letztes Mal. Ich denke zurück an die Felsen von Étretat und auch an die Pracht des normannischen Grüns, und freue mich, wieder eine Lücke in meiner persönlichen Frankreichkarte geschlossen haben zu können.

Wie hart es ist, mit schönen Erinnerungen wieder in den Alltag geworfen zu werden. Das fing an der belgischen Grenze an: Dauerregen. In Deutschland: Dauerregen. Auf der linken Spur überholte uns mit Tempo 200 David Cameron undercover in einem blauen Ford Focus auf dem Weg zum Kriesentreffen in Berlin.Regnen kann es auch in der Normandie, das steht außer Frage. Der Norden Frankreichs ist nicht der Midi. Aber ein kleines Château entlang des Weges oder eine kleine Aussicht auf ein Weltwunder wie den Mont-Saint-Michel vermisse ich doch auf dem Weg durch den Regen. Ein kleines bisschen mehr bleu, blanc et vert.





Vorbei! Ich danke euch fürs Lesen! :veneration:

Au revoir

[size=85]Nach und nach werde ich die Tippfehler entfernen, ich bitte um Nachsicht.[/size]

:merci: für diesen Bericht Avonlea, Tippfehler? -Würde eher sagen, die Normandie ist ein Supertipp :clap:

Die Crêperie La Cidrerie ist echt die Empfehlung wert und war heute am Anreisetag genau das richtige. Es schien sogar die Sonne… Hoffe das uns die Sonne hold bleibt, ein Bericht wird folgen.