Das ist keine Frage des Regelwerkes, sondern wie dieser Sport insgesamt funktioniert. Ich kenne keinen Sport, der so vielfältig ist wie der Radsport. Das macht es aber auch für den Laien schwer, ihn zu verstehen, zugegeben, und erklärt, weshalb er in Deutschland nicht ankommt. Denn hierzulande denkt man offenbar nur an das Gesamtklassement und wer die Tour auf welcher Position beendet, obwohl es auch um so viel anderes geht.
Marcel Kittel ist Sprinter und interessiert sich für die Flachetappen, bei der die meisten gleichzeitig ins Ziel kommen und somit die Chance auf einen Tagessieg haben. Wer dann am Ende der schnellste ist, gewinnt. Marcel Kittel interessiert sich nicht fürs Gesamtklassement und ich wette, er weiß nicht mal, auf welchem Platz er eigentlich am Ende gelandet ist. Er interessiert sich noch weniger dafür, ob er Zeitbonifikationen bekommen würde, um vielleicht am Ende auf Platz 50 zu landen. Niemand, der nicht Klassementfahrer ist, interessiert sich für seinen Platz in der Endabrechnung.
Vicenzo Nibali ist auch kein Bergfahrer. Reine Bergfahrer liegen nämlich auch nicht ganz vorne im Gesamtklassement, sondern irgendwo in der Mitte. Weil sie zwar im Hochgebirge gut sind und dort Etappen gewinnen können, aber sich Rückstände einhandeln, wenn es um Tempo geht wie auf den Flach- oder Mittelgebirgsetappen.
Radsport ist nicht nur ein Einzel-, sondern auch ein Teamsport. Natürlich hat Vicenzo Nibali seine Wasserträger gehabt, aber auch Marcel Kittel hat sie. Jeder, der irgendwie der Leader ist und jedes Team ist anders aufgestellt. Giant-Shimano von Kittel setzt alles daran, um einen Massensprint auf den Flachetappen herbeizuführen, weil ihr Leader ein Sprinter ist.
Es geht also im Radsport und bei der Tour nicht nur darum, wer sie am Ende gewinnt. Man kann doch aber das Gesamtklassement nicht verfälschen, indem man Bonifikationen für alle anderen vergibt, die irgendetwas reißen. Die hat man nicht umsonst abgeschafft, auch wenn sie schon dort klein waren. Wenn am Ende für einen Fahrer im Klassement eine bestimmte Dauer steht, die er für die 3.000 km gebraucht hat, dann sollte das auch die tatsächliche Zeit sein und nicht eine rechnerische.
Klar bekommt das Gelbe Trikot besondere Aufmerksamkeit. Es verdient Respekt, über drei Wochen konstante Leistung zu brigen, denn das können alle Spezialisten, also Sprinter, Zeitfahrer, Bergfahrer, Ausreißer, eben nicht. Aber niemand, der sich ein bisschen mit dem Sport beschäftigt, stellt das über andere außergewöhnliche Leistungen wie die eines Top-Sprinters wie Marcel Kittel oder eines Zeitfahrweltmeisters wie Tony Martin, der nicht nur das CLM gewonnen hat, sondern auch eine Etappe auf beeindruckende und kraftvolle Weise, die ihm seine Physis erlaubte. Wenn jemand fragt: « Wer ist besser, Vicenzo Nibali oder Peter Sagan? », würde niemand « Nibali » antworten, sondern immer die Gegenfrage stellen « Worin? ».
Ein Etappensieg bedeutet bereits viel und ich kannte bisher niemanden, der diese Bedeutung in Zweifel zieht, weil es im Gesamtklassement nicht gewürdigt wird. Wenn man sich nur fürs Gesamtklassement interessiert, schafft man sich seine Langeweile selber. Dabei ist das so ein spannender Sport, wenn man ein bisschen genauer hinsieht.