Reisebericht Nord-Pas-de-Calais

Oh, das ist aber ein schöner Reisebericht… da krieg’ ich gleich wieder « Heimweh », von Lille hätte ich soviel interessantes wirklich nicht erwartet. Aber mit Metz ging es mir ja ähnlich.

Richtig, das „Lied aus dem Film“. :confused:
Ich denke, Brel hätte deinen Einwurf aber mit Humor genommen und auch den Film gemocht…

Das habe ich im Süden auch schon erlebt, wenn ich jetzt zurückdenke. Nur mit dem Unterschied, dass ich es als Ganzjahres- und Sommerbeleuchtung wahrgenommen hatte. Aber seit ich in Lille das „Marché de Noel“ darin gelesen habe, sehe ich das nun auch anderswo in Frankreich mit anderen Augen. :smiley:

I pleut com vaque ki piche mais j’vas m’airier quitte à m’fair arouser…

Mir fällt wieder einmal auf, wie wenig Straßennamen bedeuten. Es hat keine Bedeutung, sie etwa Avenue du Général de Gaulle zu nennen, weil es davon mindestens 500 in Frankreich gibt. So auch in Lille, das zu meiner Überaschung aber immerhin eine Willy-Brandt-Straße hat. Zeitungen und Fernsehprogramme sind voll mit Wahlkampfthemen, zwei Wochen vor der Wahl kann man sich dem nicht entziehen.
Wir diskutieren über Straßennamen und ob es wohl jemals eine Avenue Nicolas Sarkozy geben wird. „Glaube ich nicht. So eine kleine Straße gibt es gar nicht“, höre ich.

Wo andere Hotels im Süden ein Frühstücks-Büffet haben, gibt es im Norden ein Frühstücks-Bouffet. Es gibt sogar Vollkornbrötchen, verschiedene Ei-Zubereitungen, Speck, Wurst und einen eigenartigen Käse, der unter einer speziellen, luft- und blickdichten Glocke verpackt ist und an den sich keiner herantraut. Nicht mal die Schotten, die uns im Rücken sitzen. Ganz besonders an diesem Büffet freut mich aber, dass es drei Sorten Kuchen gibt :heart:. Allerdings mit der Folge, dass ich ganz unfranzösisch Putenbrust auf Baguette wähle, um keinen Zuckerflash zu bekommen. Ich spüre die abschätzigen Blicke der Anderen, aber der Kuchen als Nachtisch am frühen Morgen ist es mir wert.

Heute ist der erste von zwei Marathonbesichtigungstagen und es plattert. Ich bedaure, nicht meinen stilechten Ostfriesennerz mitgenommen zu haben, denn immerhin fahren wir heute raus aufs Land. Wo die Leute Katzen zum Grillen schießen, ihre Häuser mit Bierdosen mauern und seltsam reden, wie es heißt.
Das erste Ziel ist Cassel, der höchste Punkt Franko-Flanderns mit 176m. Ich hoffe, dass wir diese Höhe auch ohne Sauerstoffgerät meistern werden. Während wir über die kostenfreie Autobahn durch das flache Land fahren, lässt sich der Blick gut schweifen, von einem Mini-Wäldchen bis zum nächsten sind es mehrere Kilometer. Ein Horizont, der nicht von der dunklen Spur eines Waldes begrenzt wird, sondern nur von bunten Feldern, ist mir neu, die Landschaft selber erinnert mich aber sehr stark an die Nordheide. Würde es nun auch noch ein bisschen Wald geben, würde ich dahinter die Elbe vermuten. Aber die Erde ist anders, die noch nackten aber gezähmten Felder sind hell und nicht schwarzerdig wie zu Hause. Ich genieße die Weitsicht aus dem Flachland ins Flachland hinaus, den Blick auf die für mich namenlosen Orte mit ihren imposanten Kirchen und Belfrieden, den wilden, regnerischen Himmel, der von der See ins Land einfällt.

Drei große gelbe Forsythie durchschneiden das Braungrün der Felder, als wir von der Autobahn in Richtung Steenvoorde und Cassel abfahren. Wo Lille mit der feinen Rafinesse in der Architektur besticht, sind die Häuser hier nicht etwa ländlich grob, wie man es erwarten könnte von anderen Orten in Frankreich, wo nur das Paradies hinter den Mauern zählt, sondern malerisch niedlich. Es gibt hübsche kleine Häuser, in denen es kaum mehr als einen einzigen Raum geben kann, aber auch größere, neuere Häuser mit teuren Autos davor, die sich trotzdem so schön in das Ortsbild einfügen. Und immer mit zwei Schornsteinen. Die Landschaft wird etwas hügeliger und man sieht schon von Weitem immer wieder kleine Backstein-Dixie-Toiletten, die mit Blumen überladen sind. Kapellen, winzige Kapellen.

Gab es während der Fahrt immer wieder Sonnenstrahlen, die das Land in Szene setzten, begrüßt uns beim Aussteigen in Cassel natürlich ein eisgekühlter Platznieselregen. Wir ahnen schon, dass es von diesem fast himalayahaft hoch gelegenen Ort für uns heute keine Weitsicht geben wird. Felder, Kanäle, Dörfer verschwinden im Dunst.
Avec infiniment des brumes à venir…
In Cassel sehe ich das zum ersten Mal, was ich vorher auf den wenigen Bildern im Internet, die ich während meiner kurzen Reiserecherche gesehen habe, schon geahnt hatte. Dass die französischen Nordlichter noch viel pragmatischer sind als wir Fischköppe und den schönsten Platz des Dorfes, das Zentrum, natürlich als Parkplatz benutzen. Der Tourismus hier hat dreißig Jahre Rückstand; anderswo hätte man die Blechkisten dort längst untersagt, Blumenpötte und Café-Bestuhlung draufgesetzt. Hier stört man sich nicht an den Autos, die man stets im Blickfeld hat, wenn man seinen Blick über die schönen Plätze schweifen lässt.
Wir kämpfen uns zwischen den Autos hindurch rüber zum Touristenbüro und bekommen dort eine hübsch gezeichnete kleine Karte des Ortes, der schnell erschlossen ist. Eine schöne Natursteintreppe führt hoch zum „Berg“, auf dem ein Wohnhaus und eine Mühle steht. Anfang des letzten Jahrhunderts hatte der Ort 22 Mühlen, in denen Öl und Mehl hergestellt wurde. Während des Ersten Weltkrieges, als die Region jahrelang ein großes Schlachtfeld war, das Städte zerstört und das Land vergiftet hat, bezog der in Frankreich legendäre Maréchal Foch für neun Monate sein Quartier im Ort. Ein angelaufenes Monument erinnert hier oben an ihn. Und dann erreichen wir die Aussichtsplattformen an den Rändern des Felsens. Bei klarem Wetter soll man angeblich bis Amiens und weit nach Belgien hinein sehen können. Ich bezweifle das. Ich glaube nicht, dass es dort im Norden jemals gutes Wetter gegeben hat. Das ist auch der Grund, warum sich in den Stein gemeißelt auch Städte wie Liverpool und Bremen finden lassen, die nur ganz leicht als „nicht sichtbar“ gekennzeichnet sind.

Der Nieselregen hört erst auf, als wir zurück ins Dorf marschieren. Natürlich. Ich sehe es als Zeichen und fühle mich auf einmal von einer unsichtbaren Instanz seltsam beobachtet. Die Region fühlt sich jetzt auch noch an wie ein Mensch, was beunruhigend ist und uns dazu bringt, schnell weiterzufahren. Auf in Richtung Küste, nach Bergues, wo ein heller Streifen am Horizont besseres Wetter verspricht. Ha ha… :unamused:


Flaches Land im Regen, vom Auto aus.


Cassel vom „Berg“ aus gesehen. Dahinter soll die weite Landschaft sein. Hinterm Regen zumindest.


Das Dorf, beziehungsweise der Haupt(park)platz.


Ah ja. Es kann nicht mehr weit sein nach Bergues. In Cassel stehen wir dort quasi schon vor der Tür.

Mehr Information
ot-cassel.fr
creafrance.org/fr/poi/4292/cassel

Die Fortsetzung wird wohl noch etwas auf sich warten lassen müssen, ich arbeite bis abends und schaffe es dann nicht mehr, noch einen hübschen Urlaubsbericht zu schreiben. Pardon. Ende der Woche geht es weiter, anderthalb Tage stehen noch aus!

wir haben Zeit

Bergues. Der Weg ist noch recht weit von Cassel aus, sagt die Karte. Aber dadurch, dass man so weit schauen kann, dass das Wetter abwechslungsreich schlecht ist und dass das Land mich einlullt, geht es recht schnell. Ich muss an ein Lied denken, in dem es ums Autofahren geht. « Und wir fahren alle Straßen, diesen langen Weg nach Hause und wir kennen die Stellen, an denen Sachen geschahen. Wir kennen die Gesichter und wir kennen die Gegenstände und wir können spüren, wie sie die Form verlieren. » Ein trauriges Lied, aber der Rhythmus ist gut und es passt in meine Nordmelancholie-Phase. Der dritte Teil des Lieds geht dann nur noch so: « Fahr fahr fahr fahr fahr fahr fahr, fahr fahr fahr fahr fahr fahr fahr… » So fühle ich mich.

Was erwarte ich von Bergues? Ich denke an den bekannten Belfried, dieses massive Bauwerk, das anders ist als das in Lille. Ich denke an die zwei Sterne auf der Sehenswürdigkeiten-Skala im Michelin-Atlas, was genauso viele sind wie für Lille. Und ich denke an den Film. An DEN Film. Der außer Acht lässt, dass die Lokalsprache nicht Ch’ti ist, sondern Flämisch. Ich erwarte, dass es regnet und das tat es. Der größte Guss des Tages geht nieder, als wir aus dem Auto ausstiegen und ich meine Umhängetasche auf den nassen Bürgersteig nur wenige Meter von zerlaufenen Hundeexkrementen entfernt fallen lasse.

Das Dorf - oder ist es eine Stadt? Wenn Bergues eine Stadt ist, ist es die dörflichste Stadt, die ich je gesehen habe - ist menschenleer. Ein einziges Auto fährt durch eine enge Straße und es klingt genau wie zu Hause, das Zischen der Straße, wenn die Reifen das Wasser aufwerfen. Ich hasse es. Schnell stehen wir vor dem schönsten Haus in Bergues, nicht weit von der Fernseh-Post entfernt. Wenn ich erst meine Villa in Frankreich habe, werde ich die Fenster in genau dem Blau streichen.
Der Belfried ist beeindruckend und leider - wie immer - viel zu hoch, um ihn auf ein Bild zu bannen. Ich wusste nicht, dass er erst in den 1960ern wieder aufgebaut wurde. In einem Schaufenster eines geschlossenen Zeitungsladens ist alles ganz im Sinne von Boons Film dekoriert. Man kann dort die DVD kaufen, Stifte, Postkarten, diverse Kochbücher, ein Mini-Ortsschild. Alle Läden haben geschlossen. Alle Bars und alle Restaurants bis auf eine Crêpes-Kneipe und ein Imbiss, in dem Leute sitzen, Hähnchen mit Pommes essen und hinaus in den Regen gucken, wo ein kleines Grüppchen von Touristen über den kleinen … äh… großen Platz schlendert. In den Straßenrändern liegt noch Konfetti und ein großer Pappmachée-Bräutigam sitzt vor dem Rathaus und schaut sich den Parkplatz an.

Wir gehen am Rathaus vorbei, die Straße hoch. Wo auch immer sie hinführt. Es hat aufgehört zu regnen und wir falten den Schirm zusammen. Atmen durch. Schauen uns wie befreit um. Spüren dann wieder dicke Tropfen, die über das Gesicht laufen, in den Nacken und schließlich vom Wind gekühlt werden. Wir finden einen kleinen Park, kurz vor der Stadtmauer. Die Reste der Abtei St.Winoc. Zwei halbverfallene Türme sind dem Wind ausgesetzt, drumherum ein nackter Sandplatz. Ein großes Schild klärt über das Schicksal dieses Ortes auf. Während der Französischen Revolution wurden die Mönche, die Gründerväter der Festung, ermordet und die Abtei niedergebrannt. Der Platz davor, auf dem wir stehen, enthält die Asche dieser Menschen.

Es regnet immer noch, als wir die Stufen des kleinen Parks hinabsteigen und ein Stück die Stadtmauer entlang laufen wollen. Eine Familie picknickt im Regen, mit Decke und Proviantkorb auf der Wiese des Parks. Ich muss wieder an den Film denken und meine mich an ein Zitat erinnern zu können, dass es tatsächlich dort aber nicht gegeben hat. « Regnet es hier oft? » « Oft? Nein. Eigentlich immer. »

Ich stelle mir Bergues im Sommer ganz nett vor. Wie die zwei Sterne im Michelin-Atlas zustande gekommen sind, kann ich mir nicht ganz erklären. Es ist ein etwas bedrückender Ort und ich bilde mir ein, spüren zu können, dass die Stadt schrumpft und die Leute fortziehen. Von etwa 6.000 kurz nach der Revolution auf nunmehr nichtmal mehr 4.000.
Auf dem Weg zurück bekommen wir einen Vorgeschmack auf das, was noch mehrfach gelehrt bekommen werden auf unserer Tour durch den Norden. Vor dem Museum, ein großes, massives graues Haus, reizlos aber raffiniert, sehe ich Einschusslöcher und schwarze Backsteine.

Wir entschließen uns kurzfristig ans Meer zu fahren, nach Dünkirchen. Ich könnte mir keinen trostloseren Ort vorstellen. Eine Stadt, die ein Manifest gegen den Krieg ist, deren Hässlichkeit einen daran erinnert, wie sinnlos Kriege sind. Nicht immer erwächst aus Zerstörung etwas gutes Neues. Es gibt ein hübsches Rathaus, den Belfried und eine Kirche. Es gibt Betonklötze, Schmutz, Wind, Kälte, dafür aber viele junge Leute. Dünkirchen ist Universitätsstadt, die Klamottenläden und amerikanischen Fast-Food-Resturants sind voll. Ich fühle mich wie in einem Vorort von Liverpool.
Auch das Meer ist trostlos, kalt, grau, wild, der Wind eisig. Ein paar Menschen gehen am Strand und auf der Betonpromenade spazieren, ganz am Horizont im Norden sieht man Sanddünen, dahinter muss Belgien sein. Nach Süden Gravelines. Schlote, deren Qualm landeinwärts getrieben wird. Ich sammle schnell etwas Sand für meine Sammlung ein und wir fahren durch das Wirrwarr von immer gleich aussehenden Straßen über die Autobahn zurück in Richtung Lille. Gut so.


Dieses Bild erklärt sich selbst


Bergues Musée Municpal


Das Zentrum von Dunkerque. Und ja, wieder ein Foto mehr, wo ich durch das Bild renne… Zut alors.

bonne chance :smiley:

Solche Regenphasen hatte ich bei meinen Osterausflug auch kurzzeitig gehabt. Da hilft eigentlich nur ein Ausflug aufs Land (Küste). Ich finde dort lasst es sich besser ertragen. Regenzeit in einer Stadt ist schlecht gelaunte und ständig gehetzte Leute wo man auch hinsieht.
(Begründung im zweiten Teil) nachricht-2319.html

Bei mir ist es das genaue Gegenteil. Ich finde mieses Wetter in der Stadt erträglicher als auf dem Land, im Urlaub wie auch zu Hause. Bei Regen bietet die Stadt mehr Möglichkeiten, sich die Zeit mit Besichtigungen zu vertreiben als das Land, ich fühle mich da durch einen Regenschirm weniger eingeengt als dort, wo ich mir die Landschaft ansehen möchte und alles nass und matschig ist, wo die Einheimischen im Haus sitzen und die blöden Touristen angucken, die draußen im Regen rumlatschen. :confused:

:laughing: Bei mir sind es immer Vögel die mit aufs Bild wollen.

Ward ihr auch in Amiens? Ich weiß, ist Picardie aber sooooo schön. Da sind wir nmämlich Regen zwei Mal hingeflüchtet. ich finde den Regen in der Stadt auch erträglicher als auf dem land… :wink:

Amiens war mir zu weit. Das Südlichste war Arras. Die Fotos dazu kommen auch noch, aber es zieht sich leider wieder etwas. Jetzt ist das schöne Studentenleben vorbei. :frowning:

Hier noch die Bilder aus Bailleuil in der Zone Rouge, jener Gebiete, die während des Ersten Weltkriegs komplett zerstört und verseucht wurden, so dass der Boden noch heute stark mit Schwermetallen und Giftgasrückständen belastet ist. Bailleiul ist aber ein netter Fleck, etwas verschlafen und sehr übersichtlich. Als wir hinkamen, hatte nur ein Obst- und Gemüsehändler geöffnet, der als Angebot eine Kiste Pink Lady hatte und die gammligsten Paprika, die ich je gesehen habe. Es passte aber so in den Ort mit dem bedeckten Himmel. Alles dort war gedämpft und vor allem in der Kirche beklemmend. Ich habe eines der Kirchenfenster fotografiert und selten je zuvor den Schmerz von Krieg und Zerstörung, so lange er auch nunschon zurück liegen mag, nämlich bald hundert Jahre, so wie hier gespürt.


Dorfplatz. Ich hatte gehofft, die Autos verbannen zu können, aber dafür fehlten mir noch ein paar Grad Neigung.


Inschrift: Die bombardierte Kirche und der Belfried im April 1918


Was dieses Fenster wohl schon alles gesehen hat?

Ich bin oft in Lille und kenne diese Stadt mitterweile sehr gut, sie ist toll! Das riesengroße Einkaufszentrum « Euralille » hat damit natürlich was zu tun (knapp daneben steht übrigens ein Bild von Willy Brandt) und im Bahnhof Lille Europe bleiben wir oft träumend und die Züge nach London schauend… die gleichgenannte U-Bahn-Station ist auch sehenswert.

Ich war noch nie in den Städten, die etwas entfernt sind von Lille, ich kenne nur die agglomération lilloise, die ich furchtbar finde. Roubaix ist meiner Meinung nach die schrecklichste Stadt, die ich je in meinem Leben gesehen habe. Und dort hätte ich beinah 2 Jahre gelebt…

Deine Bilder sind sehr interessant, aber es sieht alles so typisch aus: grau, flämische Architektur, klein und etwas dreckig. So habe ich das Nord-Pas-de-Calais immer erlebt und es hat was sympathisches.
Nur habe ich NIE den Ch’ti-Akzent gehört. In Lille zumindest und in der Umgebung (Roubaix, Wattignies etc) habe ich ihn nie gehört. Sie reden eher wie in den Banlieues nahe Paris, spucken auf dem Boden und benehmen sich total daneben. So habe ich diese Region leider auch erlebt…

Den Bahnhof hätte ich mir auch gerne noch angeschaut, aber dafür fehlte dann doch die Zeit. Aber U-Bahn-Stationen-Sightseeing wäre eine ganz gute Idee. Sollte ich mal auf eine Weltreise gehen, werde ich die schönsten Stationen der Welt zusammentragen. :mrgreen:

Du als Französin musst es wissen. Für mich klang tatsächlich fast alles nach Ch’ti, was ich nicht verstanden habe und ich dachte, es sei echt.
Ich habe allerdings auch erlebt, dass es in Lille eine Menge unhöflicher Passanten gibt. :open_mouth:
Ich bin noch nie in Frankreich und in Deutschland schon gar nicht so häufig angerempelt und in die Hacken getreten worden wie da. Ich habe es auf das Osterwochenende-Phänomen zurückgeführt, aber offenbar kann man doch leichte Schlüsse auf das genrelle Verhalten ziehen, oder? :confused:

Ostersonntag, der letzte Tag. Ich kann gar nicht glauben, dass wir erst seit anderthalb Tagen hier sind und nun müssen wir am Montag schon wieder fahren. Das Wetter kann sich nicht entscheiden, ob es Regen geben soll oder nicht. Der Abend zuvor war so viel versprechend. Gerade als wir aus Beilleuil zurück waren, schien die Sonne wieder und es war fast richtig frühlingshaft warm. Am beeindruckendsten war aber das geschäftige Treiben in der Innenstadt von Lille. Ich wollte eine Zeitung haben und kämpfte mich durch die Stadt zum Bahnhof Flandres. Karsamstag ist in Frankreich offenbar Wandertag und alle müssen durch die Gegend spazieren, mit oder ohne Ziel. Das erste Mal habe ich Ostern wie einen echten Festtag erlebt. In Deutschland ist es ein unsichtbares Fest, bis auf die Osterfeuer und die unsäglichen Plastikeier in den Bäumen des Vorgartens. In Frankreich stehen die Leute in monströsen Schlangen bis nach draußen auf die Straße vor den zahlreichen Schokoladenläden in Lille um noch schnell eines der sündhaft teuren aber wahrscheinlich sehr leckeren Schokoladenkunstwerke zu kaufen, die sie an Ostern verschenken. Es gab außerdem Musik mitten in der Stadt und eine Schule hat die Innenstadt in eine Theaterbühne verwandelt und nach kleine Schauspielaktionen geplant. Eine Gruppe hatte Plüschosterhasenohren auf dem Kopf und sang lautstark vor dem Bahnhof ein Lied, eine andere Gruppe prozessierte mit Masken und kunstvollen aber nichtssagenden Plakaten auf einem Bahnsteig.

Nach dem Frühstück am Sonntag und der Plünderung des Ostereiglases am Hoteltresen (Nougateier!) machen wir uns auf nach Béthune. 1918 wurde die Stadt wie fast alle in der Gegend südlich von Lille komplett in Schutt und Asche gelegt, nachdem die Deutschen sie vier Jahre zuvor eingenommen hatten. Der Platz im Zentrum, das Herz einer jeden nordfranzösischen Stadt, wurde ganz zerstört, der Rest der Stadt zu etwa einem Viertel. Der Belfried steht heute ganz alleine mitten auf der Rekonstruktion des Herzens von Béthune, die der Architekt Jacques Alleman geplant hat. Man muss ihm ein Lob aussprechen, es ist ein schmucker Platz geworden und man merkt gar nicht, dass Béthune einst Kriegsschauplatz war.

Dafür merkt man bei der Anfahrt über die Landstraße sehr wohl, dass der Norden Industriegebiet ist. Die höchsten Erhebungen der grünen Landschaft sind schwarze Schlacke-Berge, die wie Pyramiden schon weit aus der Ferne zu sehen sind, aber immer mehr schrumpfen, je näher man an sie herankommt. Ich muss an Wales denken, an die Katastrophe von Aberfan 1966, bei der ein Schlackeberg vom Regen aufgeweicht wurde und ein Dorf überrollt hat. Hier stehen sie in der flachen Landschaft, sind aber nicht weniger gigantisch als das, was ich in Wales gesehen habe. Ich muss auch an Emil Zola und Germinal denken, mein Bachelorarbeitsthema. Ich meine die Vergangenheit spüren zu können, einerseits die Armut, aber auch den kleinen, bescheidenen Wohlstand, den die Industrialisierung gebracht hat. Es gibt kleine ordentliche Häuser in Reih und Glied, mal flämisch verziert, mal ganz britisch.

Béthune hätte so eine lebendige kleine Stadt sein können, wenn nicht Ostersonntag gewesen wäre. Nur ein Mann geht mit seinem Hund über den großen Platz spazieren, die Hände auf dem Rücken, wie es alle älteren, in sich ruhenden Männer machen. Die kahlen Bäume, die einen Rand des Platzes zieren, sind raffiniert mit Drähten aneinander gebunden und dann so weitergewachsen. Es sieht aus wie Stromkabel. Alle Läden haben geschlossen, bis auf eine Bäckerei, die ein Glasfenster in die Backstube hat, gleich neben dem Auspuffrohr, das betäubend starke Hefeausdünstungen emittiert. Eine Oldtimer-Rennkiste mit zwei jungen, strahlenden Männern biegt um eine Ecke und lässt für uns Touristen eine Hupe erklingen, die gar nicht zu dem Sportwagen passt. Und schließlich ist da noch der Drogenabhängige, der uns anschnorrt und mich dann quer und laut über den Platz als „pute“ beschimpft, als er mit schnellen, ungelenken Schritten davonstapft.
Béthune.
Immerhin ist es der bisher einzige Ort, in dem der schöne große Platz nicht als Parkplatz benutzt wird. Ich glaube, dass es im Sommer ein richtig schöner Ort ist. Außerdem habe ich mein Lieblingshaus gefunden. Es mag vielleicht ein bisschen eng dort drin sein, aber das macht mir nichts aus. Ihr könnt ja mal raten welches es ist. Es ist keine große Überraschung. :smiley:

Mehr Information
Béthune: a town designed by Jacques Alleman
Observatoire Multimédia
Offizielle Seite der Mairie


Eglise Saint-Vaast, in der gerade wie überall am Ostersonntag Taufen waren und damit Tag der offenen Kirchentür…


Mit den Kunstbäumen und obligatorischem Hund+Halter


Fassade links neben dem Rathaus mit meinem Lieblingshaus, das welches ist? :slight_smile:

Nach Béthune war noch viel Zeit und wir fuhren nach Arras. Jene Stadt, die ich gleich als erstes Ausflugsziel genannt hatte, es mir dann aber erst anders übelegte, weil sie weit weg ist und die Bilder, die ich davon gesehen habe, dann doch etwas anders aussahen als in meinem Schulbuch vor zehn Jahren. Ich sah wieder einmal einen gigantischen Parkplatz mitten auf dem Großen Platz. Im Schulbuch hatte man das damals fein wegretuschiert und die Französischlern-Kinder waren begeistert von Arras gewesen. Eine der Vokabeln, die damals neu eingeführt wurden, war « l’éscalier », die Treppe. Und es ist heute noch eines meiner liebsten französischen Wörter, weil es wirklich schön klingt. Die Treppe stand im Zusammenhang mit dem Tunnelsystem unterhalb der Stadt, das die Briten im Krieg nutzten, um sich dichter an die Deutschen heranrobben zu können, ohne dass diese das bemerkten. Eine unterirdische Idee. Eine unterirdische Idee im besten Sinne aber hatten die Marketingleute und Künstler unserer Zeit, indem sie in diese seltsamen Höhlen einen Garten legten. Jedes Jahr ab April kann man sie für einige Wochen besichtigen. Leider fehlte uns dafür die Zeit und wir beschränkten uns auf einen kurzen Stadtrundgang, bei dem wir uns vorstellten, wie schön Arras im Sommer sein musste und an einem Tag, an dem nicht alle Läden geschlossen haben. An dem keine Ostersonntagstaufen sind, die wir unerhörterweise als Touristen stören, weil die Kirchentüren weit offen stehen und wir unverbindlich und leise einen Blick hineinwerfen und dann ein Teil von uns ausgesperrt und der andere Teil aus Versehen eingesperrt wird. Wirklich beeindruckend an Arras ist die Architektur des Großen Platzes. Nicht besonders schön und raffiniert wie anderswo, aber diese Gleichförmigkeit macht Eindruck. Es hat was Militärisches.

Man hätte definitiv noch mehr Zeit in Arras verbringen können und auch müssen, aber mein Highlight des Tages war etwas anderes und schon lange geplant. Paris-Roubaix. Der härteste Eintagesradrennklassiker der Welt. Über 250km durch den windigen Norden, knapp 50km davon über die typischen Kopfsteinpflasterfeldwege, die man hier findet. Die laut den Profis angelegt wurden, indem man Hinkelsteine aus einem Hubschrauber fallen lässt. Ehrlich, ich möchte da nicht mal im Auto drüberrumpeln. Aber immer wieder gerne zuschauen, wie es 180 Leute auf schmalen Radreifen tun.
Zum Gucken hatten wir uns Hem ausgesucht, ein Dorf vor den Toren Roubaix’. Zwischen Willem und Hem verläuft der letzte echte Pavé-Abschnitt und wenn schon, denn schon! Es soll schon ein schöner, windiger, staubiger Platz am Rande dieses Feldweges sein. Aber… ich mach es kurz: Wir kamen erst gar nicht da hin. Weil wir am Dorfrand parkten und dachten, die paar Schritte können wir mal schnell zu Fuß laufen. Es würde noch zwei Stunden dauern, bis die Fahrer kommen. Die Sonne kam raus und es war das erste Mal frühlingshaft warm im Dorf. Keine großen Sehenswürdigkeiten, es sah einfach aus wie ich mir ein belgisches Dorf vorstelle, nur mit etwas netteren Wohnhäusern. Aber an Frankreich erinnerte mich dort nichts mehr. Wir marschierten und marschierten und die Straße wurde immer länger. Schließlich taten wir das, was man außerhalb von Deutschland nie tun sollte: Polizisten nach dem Weg fragen. Französische Nationalpolizisten hassen es, wenn sie keine Ahnung haben und man sie damit praktisch aus ihren Uniformen holt, die sie größer machen als sie natürlich sind. Nein, sie wussten nicht, wie weit es noch bis zu den Pavés sind. « J’chus désolé », sagte er noch, aber an dem Blick konnte ich sehen, dass wären nicht so viele Passanten unterwegs, er gerne mal das schwarze Ding, das am Gürtel baumelte, aus seine Funktionstüchtigkeit getestet hätte. Also gingen wir weiter und beschlossen schließlich an einer Kreuzung, an der es windig und kalt war, anders als ein paar Meter weiter oben im Dorf, stehen zu bleiben. Man hatte eine ganz gute Sicht dort, auf drei Kurven. Irgendwo dahinter mussten die Pavés liegen, ich konnte sie schon am Horizont erahnen, aber wir blieben trotzdem stehen. Weil ein anderer Polizist meinte, er müsse jetzt, zwei Stunden bevor das Feld durchrauscht, schonmal alles vollsperren und nur die Zuschauer passieren lassen, die nach seinem Gusto waren. Seltsamerweise aber durften dann aber alle Leute durch, als die Fahrer schließlich tatsächlich kamen und so mancher Nachzügler den Menschenhorden ausweichen musste.

Es war kalt und es fing an zu regnen und zu winden. Aber all das war egal, als es schließlich losging. Die Werbekarawane rollte im Affenzahn vorbei und schmiss uns exakt zwei Leuchtarmbänder zu. Naja, fünf Kilometer vorm Ziel haben die eben ihr Reklamepulver schon längst verschossen. Die Mini-Geschenke waren eindeutig für einen etwa 10-jährigen Jungen gedacht, der in unserer Gruppe stand. Aber wer hat sich schnell hingehechtet und ihm das weggeschnappt? Ein dicker alter Mann mit Socken in Sandalen und Zigarre im Mund. Das war so typisch. Ich musste an die Tour de France letztes Jahr denken und an eine wirklich schöne Geschichte, die ich erst lange danach gelesen habe. (Wen es interessiert: hier.)

Anders als die TdF-Etappen und die Cyclassics, die ich bisher gesehen habe, ist bei Paris-Roubaix der erste Fahrer, der vorbeikommt, fünf Kilometer vor dem Ziel, meist derjenige, der gewinnen wird. Es war Tom Boonen (Belgien) und die Fans an der Strecke flippten aus. Die meisten waren Belgier und wir hatten ein wirklich nettes Gespräch (auf Deutsch!) mit einem von ihnen. Ein uriger Typ mit Wollmütze auf und Quick-Step-Käppie oben drüber, der zusammen mit seiner Familie im Wohnmobil campte. Seine Mutter zog mich dann schließlich mitten auf die Strecke, als die Radfahrer kamen. Wirklich, mitten auf die Straße und keinen kümmerte es. « Viens, il ne faut pas avoir peur. C’est l’ambiance qui compte! », sagte sie und ich freute mich über dieses selbstverständliche Sprachengemisch. Wir sprachen kurz über das Rennen, die flämische Begeisterung für Radrennen und für Tom Boonen. « Tommeke », wie sie ihn nannten.

Ich bin nicht daran gewöhnt gewesen, dass es bei Paris-Roubaix kurz vor dem Ziel natürlich kein richtiges Peloton mehr gibt, sondern dass die Fahrer so nach und nach vorbeifahren. Wobei « fahren » fast schon nicht mehr stimmt. Wenn es ein Radfahrer-Equivalent zu « kriechen » gibt, war es das. Der einzige, der wirklich noch relativ schnell unterwegs war, war Boonen, alle anderen fuhren auf dem Zahlfleisch und es hatte eher was von einer abendlichen Trainigsfahrt. Als wir auf dem Weg zurück waren, kamen immer noch welche hinterher und die Geschwindigkeitsanzeige im Dorf stand auf 30km/h. Die Würtchenbuden in Hem bauten sich langsam ab und es fing an zu regnen. Wir wurstelten uns durch eine Gruppe Belgier, die aus einer kleinen Kneipe kamen und nach Bier stanken. Schließlich raste im Mordtempo der Besenwagen vorbei. Beziehungsweise gleich zwei Besenwagen, denn in Paris-Roubaix reicht einer nicht aus, um dieganzen ausgestiegenen Fahrer zu transportieren. Und jeder der Besenwagen hatte noch einen langen Anhänger, auf dem die entsprechenden Carbonleichen nach Roubaix gekarrt wurden. Das sind die Dinge, die man im Fernsehen nie sieht, weil die Zeit nicht ausreicht und weil alle Kameras immer vorneweg fahren. Die ganzen Dinge, die aber auch ein Radrennen ausmachen, erfährt man nur, wenn man vor Ort ist. Wenn man sieht, wer als Letzter zwischen den nach Hause strömenden Zuschauer hindurch fahren muss. Wenn man den netten älteren Herren sieht, der sich kurz nach den zahlreichen Polizisten umsieht und dann fix ein « Paris-Roubaix »-Schild abreißt, um es als Souvenir einzupacken. Auch wenn man so nur einen Aussschnitt von der sportlichen Seite des Rennens sieht, so hat dies seinen eigenen Charme und ich bin froh, einmal bei Paris-Roubaix dabei gewesen zu sein. Obwohl ich meinem Platz an den Pavés doch hinterhertrauere. Fünfhundert Meter! Die hätte ich auch noch laufen können.

Insgesamt bin ich sehr froh über diesen spontanen Kurzurlaub gewesen und konnte auf meiner Frankreichkarte einen weiteren weißen Fleck mit Farbe füllen. Wir haben einiges gesehen in diesen zweieinhalb Marathontagen und ich würde die Region gerne im Sommer und bei gutem Wetter sehen. Aber man muss weiterziehen und ich weiß nicht, wann ich das nächste herkommen werde. Mein Herz gehört weiterhin dem Süden, aber das Nord-Pas-de-Calais hat sich ein bisschen als naturgemäße Heimat bestätigt. Der Norden ist der Norden und es gibt mehr Gemeinsamkeiten zwischen ihm und meinem Zuhause. :wink:

Infos
Seite des OT in Arras
Kurzer Rennbericht, Video bei Eurosport
50-minütige Doku (frz.) über die Legende der « Hölle des Nordens », von 1996
Textporträt Paris-Roubaix (dt.)


Arras

Danke Avonlea,
wieder ein von Deine Geschichten, für die es sich lohnt, länger aufzubleiben :top: .

Danke für’s Lesen, Napoleon!

Auch wenn ich mir immer noch wünsche, dass es hier ein paar mehr Reiseberichte gibt, denn ich lese auch gerne was von euch.

ich bin gerade erst zurück und kann den letzten teil lesen.

SCHADE

du solltest dir die gegend nochmals ansehen. sie anders sehen… ihrem charme erliegen. ich war so oft in bergues … vor dem film und danach. bei dunkerque gebe ich dir recht (da wird oliver protestieren). aber gravelines… seine festung, seine wälle, seine kleinen läden, das kopfsteinpflaster, die ruhe… immer wieder.

uind wozu ein regenschirm? wir sind doch nicht in cherbourg.

Wieso sollte ich sie anders sehen? Mir hat doch gefallen was ich gesehen habe, aber es gab nichts groß Unerwartetes, ich hatte es mir ähnlich vorgestellt. Allerdings bedaure ich wirklich, dass es nicht Sommer war. Im Frühling kann man ganz gut in den Süden fahren, aber wenn Wetter und Temperatur genauso sind wie zu Hause, kommt nicht wirklich ein Urlaubsgefühl auf.

Mindestens einmal werde ich bestimmt noch hinfahren. Mein Luxusplatz an den Pavés steht noch aus. :mrgreen:

keine angst… im sommer wird es nicht anders sein als im herbst.
regen? der kommt vor, … gehört dazu.
aber mit ein paar der weltbesten fritten, lecker flämisches bier… dann der sand am strand unter den füssen, durch die dünen…
ein paar tolle kaltblütler auf den weiden…
und geschichte von vauban bis heute.

und… verrat den ch`tis doch nicht, das sie eigentlich dort flamen sind. selbst das wappen ihres departement ist der flämische löwe. sie essen pottje fleesch und reden frnzösisch, oder das, was sie dafür halten.

und was will man im süden? sich die haut verbrennen? :stuck_out_tongue:

unde natürlich habe ich zwischen deinen zeilen gelesen, das du längst verliebt bist… in dieses wunderbare stückchen feuchte erde.