Es ist Karfreitag und als wir morgens kurz nach Sonnenaufgang durch die dunstig eiskalte Heide fahren, stapelt sich auf den freien Feldern nahe der noch schlafenden Dörfer das Osterfeuerholz. Wenn Deutschland wieder anfängt die Sache mit dem Klimaschutz zu vergessen, wenn die Leute ihre Kleidung räuchern und volltrunken auf die Auferstehung Jesu warten, werden wir längst weg sein. In Frankreich, und zwar auch weit weg vom Süden, wo der Frühling längst da ist.
Ich war noch nie in Winterklamotten im Urlaub, aber nun ist es so weit. Es gibt keinerlei Aufbruchstimmung, als wir still durch die Landschaft fahren. Nicht nach Süden, durch Hessen, Baden-Würtemberg und dann Frankreich, sondern durch das Ruhrgebiet. Beim Frühstück in Ostwestfalen-Lippe kurz hinterm AKW riechen die Felder sauer und unser Atem gefriert. Aber dann, als wir im Ruhrgebiet sind und ich fasziniert diese verschiedenen Qualmfarben betrachte, die aus den Schloten kommen, orange und seltene Grautöne, entdecke ich an den Strommastenkabeln rote Kugeln und erinnere mich an Frankreich. Die Wucht der Erinnerungen, wenn man Dinge sieht, die man früher einmal gesehen und mit etwas assoziiert hat, die man aber vergaß, weil man älter wurde und die kleinen Dinge unbedeutend. Jetzt betrachte ich diese seltsamen Bommel, die ich zuvor nur in Frankreich gesehen hatte und die für mich das eindeutigste Zeichen dafür waren, im Land angekommen zu sein. Ich wusste nicht, dass es sie auch in Deutschland gibt und hänge meinen Blick in Melancholie an jede einzelne.
Melancholie ist ein gutes Stichwort. Der Süden ist für mich ein Ort ohne sie und ich genieße es jedes Mal, wenn ich dorthin fahren kann. Der Norden aber wird anders sein. Ich habe einiges über Nordfrankreich und Flandern gelesen und ich erwarte, dass es genauso sein wird wie in Zolas Germinal und bei Jacques Brel.
Avec la mer du Nord pour dernier terrain vague
Et des vagues de dunes pour arrêter les vagues
Et de vagues rochers que les marées dépassent
Et qui ont à jamais le coeur à marée basse
Avec infiniment de brumes à venir
Avec le vent de l’est écoutez-le tenir
Le plat pays qui est le mien
Ich kann es mir gut vorstellen und fühle jetzt schon eine Verbundenheit zwischen meinem Norden zwischen Elbe und Nordsee und dem Norden meines Lieblingslandes. Ein Stück Heimat in der Fremde, die nichts mit der Heimat des Südens zu tun hat, die ich bisher kannte und so genossen habe.
Die Grenze zu den Niederlanden erkennt man an dem schlagartigen besseren Asphalt, die Grenze zu Belgien wiederum an dem schlagartig sehr miesen. An den Autobahnlaternen und an der unglaublichen Menge an Müll, die rechts auf dem Grünstreifen lungert. Ich bilde mir ein, daran die aktuellen Probleme des Landes zu erkennen. Ich nehme mir vor auch den Grünstreifen hinter der französischen Grenze zu studieren, vergesse es aber, denn ich bin zu beschäftigt damit, über die Sonne zu staunen. Hatte ich wirklich erwartet, dass es am Schild „Nord-Pas-de-Calais“ anfängt zu regnen? Ich weiß es nicht mehr, aber es wäre ebenso authentisch gewesen wie die Sonne, die zwischen den hohen, bürgerlichen Häusern hindurch auf die Boulevards scheint. Lille. Das kürzeste Urlaubsziel meines noch recht kurzen Lebens, sowohl was die Distanz angeht als auch die Anzahl der Stunden, die ich urlauben werden. 69 Stunden, minus 24 Stunden Schlaf.
Karfreitag ist in Frankreich offenbar ein normaler Werktag. Die Läden haben geöffnet und dick bemantelte Menschen schleppen Tüten von H&M, C&A und FNAC durch die Gegend. Es gibt sehr viele juneg Leute in den Straßen, Lille ist immerhin Universitätsstadt und man darf auch die Bevölkerungsentwicklung in Frankreich nicht vergessen. Man kann sie auch nicht vergessen, denn sie ist so sichtbar. Drei Babymode-Läden zähle ich in der Altstadt und bei den Müttern, die Kinderwagen schieben oder einen kleinen Menschen an der Hand haben, fange ich erst gar nicht zu zählen an. Außerdem habe ich etwas anderes vor als das. Ich muss mich umsehen. Eindrücke aufsaugen, mir ein Bild machen. Was ich sehe gefällt mir gut. Ist das Frankreich? Ein umwerfend schöner Baustil, der mich an meine kleine Hansestadt erinnert mit ihren Zuckergussgiebeln und Verzierungen? Es ist Frankreich, definitiv. Die zahlreichen Avenues de Crottes de Chien können einen nicht täuschen, leider. Es lohnt sich wie immer in Frankreich, einmal den Blick zu senken und ihn wieder zu heben…
Mir fallen die immer gleichen Steinornamente auf. Obst-/Gemüsegirlanden und eine Frau in der Mitte.
Ich bin immer schon ein großer Fan von Kirchtürmen gewesen, aber ab sofort gibt es noch eine Steigerung davon. Belfriede. Man darf sie nicht nur im Fernsehen anschauen und sagen „Habe ich gesehen! Hübsch.“, man muss davor stehen und in den Himmel schauen, zwischen die Straßen hindurch und dann als dritte Perspektive möglichst weit weg von der Stadt auf die Stadt.
Wir kamen am frühen Nachmittag an, an dem die Cafés und auch die zahlreichen Bierbars schon voll sind. Eine Bar bietet auch günstige Pizza an und wir entscheiden uns dafür. Zu müde und zu hungrig, um jetzt schon Ch’tis-Gerichte zu probieren. Drinnen riecht es streng nach altem Linoleum und nach Hund. Der Kneipenbesitzer, ein älterer Herr mit dickem Bauch und blauen Augen, in T-Shirt bei 7°C, nimmt unsere Bestellung entgegen, indem er sie quer durch die Kneipe direkt in die Küche brüllt. Als Getränk stapelt er drei Dosen Cola auf den Tisch und schiebt drei etwas klebrige Gläser hinterher, während seine Frau Pizza-Messer bringt.
Ich weiß nicht, ob ich mich wie zu Hause fühlen soll (nur dass bei uns die Gläser in der Regel sauber sind) oder wie im Film. Ich warte darauf, heimlich einen Blick rüber zur Theke zu werfen, an der die Beiden stehen, und zu sehen, ob sie Käsebrötchen in Muckefuck tunken.
Am Abend leeren sich die Straßen und wir ziehen wie einsame, frierende aber staunende Wölfe durch die Straßen einer uns bis vor wenigen Stunden fremden Stadt, in der wir uns aber seltsamerweise fast wie zu Hause fühlen. Das erste Mal fallen wir nicht wirklich als Touristen auf. Denn im April tragen wir noch keine Socken in Sandalen. Spaß beiseite. Wir fallen wirklich nicht auf, weil es hier tatsächlich sehr viele nordisch aussehende und handelnde Menschen gibt. Der Unterschied zum impulsiven und emotionalen Süden ist greifbar.
Wir schauen von draußen in die geschäftigen aber stummen Restaurants und Bars, die jede ihren eigenen Stil hat und nicht selten etwas von anderen Ländern in sich tragen. Wir sehen Irish Pubs und Norwegerrestaurants. Lille liegt mitten in Europa und diese Marke, die die Stadt durch ihre schnellen Zuverbindungen der Achsen Brüssel-Paris-London hat, scheint überall durch.
Ich bedaure nur, dass es keine Zikaden gibt und es aufgrund der arktischen Kälte einfach nicht nach Frankreich riecht. Wirklich nicht. Ich werde noch mindestens eine Nacht brauchen, um mich daran zu gewöhnen. Nicht gewöhnen allerdings kann ich mich daran, dass überall in den Straßen noch die Weihnachtsbeleuchtung mit den „Marché de Noel“-Schriftzügen hängt. Zwei Tage vor Ostern. Die spinnen, die Ch’tis.
Mehr Information zur Stadt
lilletourism.com/
de.wikipedia.org/wiki/Lille