Reisebericht Nord-Pas-de-Calais

:laughing: :laughing: :laughing:
na hoffentlich nutzt keiner die Pause für Werbung :sunglasses:

eine reise in meinen vorgarten…

bin gespannt.


alle sudisten enden sowieso am atlantik… :laughing:
da bin ich mal gespannt :wink:

Danke für die Einladung! Ich würde dann gerne in der letzten Septemberwoche kommen und etwa drei Wochen bleiben. Wenn du es einrichten kannst, wäre mir ein Appartement mit eigener Terrasse und Meerblick sehr recht. Was das Frühstücksbuffet angeht stelle ich keine Ansprüche, sofern es drei Sorten Kuchen, deutsches Schwarzbrot und Kaviartapenade gibt.

Mein Herz gehört natürlich dem Midi, aber ich habe ein großes Stück für den Rest Frankreichs und der Welt reserviert. :wink:

Auf den Reisebericht freue ich mich schon. Wir haben am WE noch unsere Bilder und Filme von da geguckt. :laughing:

Moin,

nimm Dir warme Klamotten mit. Noch liegt Schnee und es hat knapp 0 Grad. :smiley: :smiley: :smiley:

Viel Spass dans le Noooooooord! :smiley:

LG,

Oliver

Ich war doch schon da! Ich muss nur noch Bilder sichten und nachdenken und schreiben… Das dauert bis zum Wochenende.
Was das Wetter angeht, war es ganz hanseatisch. So und so .

Das kenn ich von da oben. :laughing:

Es ist Karfreitag und als wir morgens kurz nach Sonnenaufgang durch die dunstig eiskalte Heide fahren, stapelt sich auf den freien Feldern nahe der noch schlafenden Dörfer das Osterfeuerholz. Wenn Deutschland wieder anfängt die Sache mit dem Klimaschutz zu vergessen, wenn die Leute ihre Kleidung räuchern und volltrunken auf die Auferstehung Jesu warten, werden wir längst weg sein. In Frankreich, und zwar auch weit weg vom Süden, wo der Frühling längst da ist.

Ich war noch nie in Winterklamotten im Urlaub, aber nun ist es so weit. Es gibt keinerlei Aufbruchstimmung, als wir still durch die Landschaft fahren. Nicht nach Süden, durch Hessen, Baden-Würtemberg und dann Frankreich, sondern durch das Ruhrgebiet. Beim Frühstück in Ostwestfalen-Lippe kurz hinterm AKW riechen die Felder sauer und unser Atem gefriert. Aber dann, als wir im Ruhrgebiet sind und ich fasziniert diese verschiedenen Qualmfarben betrachte, die aus den Schloten kommen, orange und seltene Grautöne, entdecke ich an den Strommastenkabeln rote Kugeln und erinnere mich an Frankreich. Die Wucht der Erinnerungen, wenn man Dinge sieht, die man früher einmal gesehen und mit etwas assoziiert hat, die man aber vergaß, weil man älter wurde und die kleinen Dinge unbedeutend. Jetzt betrachte ich diese seltsamen Bommel, die ich zuvor nur in Frankreich gesehen hatte und die für mich das eindeutigste Zeichen dafür waren, im Land angekommen zu sein. Ich wusste nicht, dass es sie auch in Deutschland gibt und hänge meinen Blick in Melancholie an jede einzelne.

Melancholie ist ein gutes Stichwort. Der Süden ist für mich ein Ort ohne sie und ich genieße es jedes Mal, wenn ich dorthin fahren kann. Der Norden aber wird anders sein. Ich habe einiges über Nordfrankreich und Flandern gelesen und ich erwarte, dass es genauso sein wird wie in Zolas Germinal und bei Jacques Brel.
Avec la mer du Nord pour dernier terrain vague
Et des vagues de dunes pour arrêter les vagues
Et de vagues rochers que les marées dépassent
Et qui ont à jamais le coeur à marée basse
Avec infiniment de brumes à venir
Avec le vent de l’est écoutez-le tenir
Le plat pays qui est le mien

Ich kann es mir gut vorstellen und fühle jetzt schon eine Verbundenheit zwischen meinem Norden zwischen Elbe und Nordsee und dem Norden meines Lieblingslandes. Ein Stück Heimat in der Fremde, die nichts mit der Heimat des Südens zu tun hat, die ich bisher kannte und so genossen habe.

Die Grenze zu den Niederlanden erkennt man an dem schlagartigen besseren Asphalt, die Grenze zu Belgien wiederum an dem schlagartig sehr miesen. An den Autobahnlaternen und an der unglaublichen Menge an Müll, die rechts auf dem Grünstreifen lungert. Ich bilde mir ein, daran die aktuellen Probleme des Landes zu erkennen. Ich nehme mir vor auch den Grünstreifen hinter der französischen Grenze zu studieren, vergesse es aber, denn ich bin zu beschäftigt damit, über die Sonne zu staunen. Hatte ich wirklich erwartet, dass es am Schild „Nord-Pas-de-Calais“ anfängt zu regnen? Ich weiß es nicht mehr, aber es wäre ebenso authentisch gewesen wie die Sonne, die zwischen den hohen, bürgerlichen Häusern hindurch auf die Boulevards scheint. Lille. Das kürzeste Urlaubsziel meines noch recht kurzen Lebens, sowohl was die Distanz angeht als auch die Anzahl der Stunden, die ich urlauben werden. 69 Stunden, minus 24 Stunden Schlaf.

Karfreitag ist in Frankreich offenbar ein normaler Werktag. Die Läden haben geöffnet und dick bemantelte Menschen schleppen Tüten von H&M, C&A und FNAC durch die Gegend. Es gibt sehr viele juneg Leute in den Straßen, Lille ist immerhin Universitätsstadt und man darf auch die Bevölkerungsentwicklung in Frankreich nicht vergessen. Man kann sie auch nicht vergessen, denn sie ist so sichtbar. Drei Babymode-Läden zähle ich in der Altstadt und bei den Müttern, die Kinderwagen schieben oder einen kleinen Menschen an der Hand haben, fange ich erst gar nicht zu zählen an. Außerdem habe ich etwas anderes vor als das. Ich muss mich umsehen. Eindrücke aufsaugen, mir ein Bild machen. Was ich sehe gefällt mir gut. Ist das Frankreich? Ein umwerfend schöner Baustil, der mich an meine kleine Hansestadt erinnert mit ihren Zuckergussgiebeln und Verzierungen? Es ist Frankreich, definitiv. Die zahlreichen Avenues de Crottes de Chien können einen nicht täuschen, leider. Es lohnt sich wie immer in Frankreich, einmal den Blick zu senken und ihn wieder zu heben…
Mir fallen die immer gleichen Steinornamente auf. Obst-/Gemüsegirlanden und eine Frau in der Mitte.

Ich bin immer schon ein großer Fan von Kirchtürmen gewesen, aber ab sofort gibt es noch eine Steigerung davon. Belfriede. Man darf sie nicht nur im Fernsehen anschauen und sagen „Habe ich gesehen! Hübsch.“, man muss davor stehen und in den Himmel schauen, zwischen die Straßen hindurch und dann als dritte Perspektive möglichst weit weg von der Stadt auf die Stadt.

Wir kamen am frühen Nachmittag an, an dem die Cafés und auch die zahlreichen Bierbars schon voll sind. Eine Bar bietet auch günstige Pizza an und wir entscheiden uns dafür. Zu müde und zu hungrig, um jetzt schon Ch’tis-Gerichte zu probieren. Drinnen riecht es streng nach altem Linoleum und nach Hund. Der Kneipenbesitzer, ein älterer Herr mit dickem Bauch und blauen Augen, in T-Shirt bei 7°C, nimmt unsere Bestellung entgegen, indem er sie quer durch die Kneipe direkt in die Küche brüllt. Als Getränk stapelt er drei Dosen Cola auf den Tisch und schiebt drei etwas klebrige Gläser hinterher, während seine Frau Pizza-Messer bringt.
Ich weiß nicht, ob ich mich wie zu Hause fühlen soll (nur dass bei uns die Gläser in der Regel sauber sind) oder wie im Film. Ich warte darauf, heimlich einen Blick rüber zur Theke zu werfen, an der die Beiden stehen, und zu sehen, ob sie Käsebrötchen in Muckefuck tunken.

Am Abend leeren sich die Straßen und wir ziehen wie einsame, frierende aber staunende Wölfe durch die Straßen einer uns bis vor wenigen Stunden fremden Stadt, in der wir uns aber seltsamerweise fast wie zu Hause fühlen. Das erste Mal fallen wir nicht wirklich als Touristen auf. Denn im April tragen wir noch keine Socken in Sandalen. :mrgreen: Spaß beiseite. Wir fallen wirklich nicht auf, weil es hier tatsächlich sehr viele nordisch aussehende und handelnde Menschen gibt. Der Unterschied zum impulsiven und emotionalen Süden ist greifbar.
Wir schauen von draußen in die geschäftigen aber stummen Restaurants und Bars, die jede ihren eigenen Stil hat und nicht selten etwas von anderen Ländern in sich tragen. Wir sehen Irish Pubs und Norwegerrestaurants. Lille liegt mitten in Europa und diese Marke, die die Stadt durch ihre schnellen Zuverbindungen der Achsen Brüssel-Paris-London hat, scheint überall durch.

Ich bedaure nur, dass es keine Zikaden gibt und es aufgrund der arktischen Kälte einfach nicht nach Frankreich riecht. Wirklich nicht. Ich werde noch mindestens eine Nacht brauchen, um mich daran zu gewöhnen. Nicht gewöhnen allerdings kann ich mich daran, dass überall in den Straßen noch die Weihnachtsbeleuchtung mit den „Marché de Noel“-Schriftzügen hängt. Zwei Tage vor Ostern. Die spinnen, die Ch’tis.

Mehr Information zur Stadt
lilletourism.com/
de.wikipedia.org/wiki/Lille

es ist immer wieder schön die reiseberichte von dir zu lesen :top:

:wink:

:merci: für den schönen Reisebericht. [size=50]bei mir ist es immer umgedreht …weniger Text und mehr Bilder ;-/[/size]
Ich habe Orte kennen gelernt bei dem die Weihnachtsbeleuchtung bis tief in den Sommer (oder sicher das ganze Jahr) hängen bleibt.

… man könnte auch sagen, das ist die flämische ader im norden… was man hängen lässt, kann man im nächsten jahr wieder nutzen und hatte keine arbeit damit… in der zwischenzeit.

ein schöner bericht aus dem dept. nord.

und alles, was du da beschreibst, ist das, was ich dort so liebe.

Dis is doch dis Lied aus „Bienvenue chez les Ch`tis“… oder???

Oh, das ist aber ein schöner Reisebericht… da krieg’ ich gleich wieder « Heimweh », von Lille hätte ich soviel interessantes wirklich nicht erwartet. Aber mit Metz ging es mir ja ähnlich.

Richtig, das „Lied aus dem Film“. :confused:
Ich denke, Brel hätte deinen Einwurf aber mit Humor genommen und auch den Film gemocht…

Das habe ich im Süden auch schon erlebt, wenn ich jetzt zurückdenke. Nur mit dem Unterschied, dass ich es als Ganzjahres- und Sommerbeleuchtung wahrgenommen hatte. Aber seit ich in Lille das „Marché de Noel“ darin gelesen habe, sehe ich das nun auch anderswo in Frankreich mit anderen Augen. :smiley:

I pleut com vaque ki piche mais j’vas m’airier quitte à m’fair arouser…

Mir fällt wieder einmal auf, wie wenig Straßennamen bedeuten. Es hat keine Bedeutung, sie etwa Avenue du Général de Gaulle zu nennen, weil es davon mindestens 500 in Frankreich gibt. So auch in Lille, das zu meiner Überaschung aber immerhin eine Willy-Brandt-Straße hat. Zeitungen und Fernsehprogramme sind voll mit Wahlkampfthemen, zwei Wochen vor der Wahl kann man sich dem nicht entziehen.
Wir diskutieren über Straßennamen und ob es wohl jemals eine Avenue Nicolas Sarkozy geben wird. „Glaube ich nicht. So eine kleine Straße gibt es gar nicht“, höre ich.

Wo andere Hotels im Süden ein Frühstücks-Büffet haben, gibt es im Norden ein Frühstücks-Bouffet. Es gibt sogar Vollkornbrötchen, verschiedene Ei-Zubereitungen, Speck, Wurst und einen eigenartigen Käse, der unter einer speziellen, luft- und blickdichten Glocke verpackt ist und an den sich keiner herantraut. Nicht mal die Schotten, die uns im Rücken sitzen. Ganz besonders an diesem Büffet freut mich aber, dass es drei Sorten Kuchen gibt :heart:. Allerdings mit der Folge, dass ich ganz unfranzösisch Putenbrust auf Baguette wähle, um keinen Zuckerflash zu bekommen. Ich spüre die abschätzigen Blicke der Anderen, aber der Kuchen als Nachtisch am frühen Morgen ist es mir wert.

Heute ist der erste von zwei Marathonbesichtigungstagen und es plattert. Ich bedaure, nicht meinen stilechten Ostfriesennerz mitgenommen zu haben, denn immerhin fahren wir heute raus aufs Land. Wo die Leute Katzen zum Grillen schießen, ihre Häuser mit Bierdosen mauern und seltsam reden, wie es heißt.
Das erste Ziel ist Cassel, der höchste Punkt Franko-Flanderns mit 176m. Ich hoffe, dass wir diese Höhe auch ohne Sauerstoffgerät meistern werden. Während wir über die kostenfreie Autobahn durch das flache Land fahren, lässt sich der Blick gut schweifen, von einem Mini-Wäldchen bis zum nächsten sind es mehrere Kilometer. Ein Horizont, der nicht von der dunklen Spur eines Waldes begrenzt wird, sondern nur von bunten Feldern, ist mir neu, die Landschaft selber erinnert mich aber sehr stark an die Nordheide. Würde es nun auch noch ein bisschen Wald geben, würde ich dahinter die Elbe vermuten. Aber die Erde ist anders, die noch nackten aber gezähmten Felder sind hell und nicht schwarzerdig wie zu Hause. Ich genieße die Weitsicht aus dem Flachland ins Flachland hinaus, den Blick auf die für mich namenlosen Orte mit ihren imposanten Kirchen und Belfrieden, den wilden, regnerischen Himmel, der von der See ins Land einfällt.

Drei große gelbe Forsythie durchschneiden das Braungrün der Felder, als wir von der Autobahn in Richtung Steenvoorde und Cassel abfahren. Wo Lille mit der feinen Rafinesse in der Architektur besticht, sind die Häuser hier nicht etwa ländlich grob, wie man es erwarten könnte von anderen Orten in Frankreich, wo nur das Paradies hinter den Mauern zählt, sondern malerisch niedlich. Es gibt hübsche kleine Häuser, in denen es kaum mehr als einen einzigen Raum geben kann, aber auch größere, neuere Häuser mit teuren Autos davor, die sich trotzdem so schön in das Ortsbild einfügen. Und immer mit zwei Schornsteinen. Die Landschaft wird etwas hügeliger und man sieht schon von Weitem immer wieder kleine Backstein-Dixie-Toiletten, die mit Blumen überladen sind. Kapellen, winzige Kapellen.

Gab es während der Fahrt immer wieder Sonnenstrahlen, die das Land in Szene setzten, begrüßt uns beim Aussteigen in Cassel natürlich ein eisgekühlter Platznieselregen. Wir ahnen schon, dass es von diesem fast himalayahaft hoch gelegenen Ort für uns heute keine Weitsicht geben wird. Felder, Kanäle, Dörfer verschwinden im Dunst.
Avec infiniment des brumes à venir…
In Cassel sehe ich das zum ersten Mal, was ich vorher auf den wenigen Bildern im Internet, die ich während meiner kurzen Reiserecherche gesehen habe, schon geahnt hatte. Dass die französischen Nordlichter noch viel pragmatischer sind als wir Fischköppe und den schönsten Platz des Dorfes, das Zentrum, natürlich als Parkplatz benutzen. Der Tourismus hier hat dreißig Jahre Rückstand; anderswo hätte man die Blechkisten dort längst untersagt, Blumenpötte und Café-Bestuhlung draufgesetzt. Hier stört man sich nicht an den Autos, die man stets im Blickfeld hat, wenn man seinen Blick über die schönen Plätze schweifen lässt.
Wir kämpfen uns zwischen den Autos hindurch rüber zum Touristenbüro und bekommen dort eine hübsch gezeichnete kleine Karte des Ortes, der schnell erschlossen ist. Eine schöne Natursteintreppe führt hoch zum „Berg“, auf dem ein Wohnhaus und eine Mühle steht. Anfang des letzten Jahrhunderts hatte der Ort 22 Mühlen, in denen Öl und Mehl hergestellt wurde. Während des Ersten Weltkrieges, als die Region jahrelang ein großes Schlachtfeld war, das Städte zerstört und das Land vergiftet hat, bezog der in Frankreich legendäre Maréchal Foch für neun Monate sein Quartier im Ort. Ein angelaufenes Monument erinnert hier oben an ihn. Und dann erreichen wir die Aussichtsplattformen an den Rändern des Felsens. Bei klarem Wetter soll man angeblich bis Amiens und weit nach Belgien hinein sehen können. Ich bezweifle das. Ich glaube nicht, dass es dort im Norden jemals gutes Wetter gegeben hat. Das ist auch der Grund, warum sich in den Stein gemeißelt auch Städte wie Liverpool und Bremen finden lassen, die nur ganz leicht als „nicht sichtbar“ gekennzeichnet sind.

Der Nieselregen hört erst auf, als wir zurück ins Dorf marschieren. Natürlich. Ich sehe es als Zeichen und fühle mich auf einmal von einer unsichtbaren Instanz seltsam beobachtet. Die Region fühlt sich jetzt auch noch an wie ein Mensch, was beunruhigend ist und uns dazu bringt, schnell weiterzufahren. Auf in Richtung Küste, nach Bergues, wo ein heller Streifen am Horizont besseres Wetter verspricht. Ha ha… :unamused:


Flaches Land im Regen, vom Auto aus.


Cassel vom „Berg“ aus gesehen. Dahinter soll die weite Landschaft sein. Hinterm Regen zumindest.


Das Dorf, beziehungsweise der Haupt(park)platz.


Ah ja. Es kann nicht mehr weit sein nach Bergues. In Cassel stehen wir dort quasi schon vor der Tür.

Mehr Information
ot-cassel.fr
creafrance.org/fr/poi/4292/cassel

Die Fortsetzung wird wohl noch etwas auf sich warten lassen müssen, ich arbeite bis abends und schaffe es dann nicht mehr, noch einen hübschen Urlaubsbericht zu schreiben. Pardon. Ende der Woche geht es weiter, anderthalb Tage stehen noch aus!

wir haben Zeit

Bergues. Der Weg ist noch recht weit von Cassel aus, sagt die Karte. Aber dadurch, dass man so weit schauen kann, dass das Wetter abwechslungsreich schlecht ist und dass das Land mich einlullt, geht es recht schnell. Ich muss an ein Lied denken, in dem es ums Autofahren geht. « Und wir fahren alle Straßen, diesen langen Weg nach Hause und wir kennen die Stellen, an denen Sachen geschahen. Wir kennen die Gesichter und wir kennen die Gegenstände und wir können spüren, wie sie die Form verlieren. » Ein trauriges Lied, aber der Rhythmus ist gut und es passt in meine Nordmelancholie-Phase. Der dritte Teil des Lieds geht dann nur noch so: « Fahr fahr fahr fahr fahr fahr fahr, fahr fahr fahr fahr fahr fahr fahr… » So fühle ich mich.

Was erwarte ich von Bergues? Ich denke an den bekannten Belfried, dieses massive Bauwerk, das anders ist als das in Lille. Ich denke an die zwei Sterne auf der Sehenswürdigkeiten-Skala im Michelin-Atlas, was genauso viele sind wie für Lille. Und ich denke an den Film. An DEN Film. Der außer Acht lässt, dass die Lokalsprache nicht Ch’ti ist, sondern Flämisch. Ich erwarte, dass es regnet und das tat es. Der größte Guss des Tages geht nieder, als wir aus dem Auto ausstiegen und ich meine Umhängetasche auf den nassen Bürgersteig nur wenige Meter von zerlaufenen Hundeexkrementen entfernt fallen lasse.

Das Dorf - oder ist es eine Stadt? Wenn Bergues eine Stadt ist, ist es die dörflichste Stadt, die ich je gesehen habe - ist menschenleer. Ein einziges Auto fährt durch eine enge Straße und es klingt genau wie zu Hause, das Zischen der Straße, wenn die Reifen das Wasser aufwerfen. Ich hasse es. Schnell stehen wir vor dem schönsten Haus in Bergues, nicht weit von der Fernseh-Post entfernt. Wenn ich erst meine Villa in Frankreich habe, werde ich die Fenster in genau dem Blau streichen.
Der Belfried ist beeindruckend und leider - wie immer - viel zu hoch, um ihn auf ein Bild zu bannen. Ich wusste nicht, dass er erst in den 1960ern wieder aufgebaut wurde. In einem Schaufenster eines geschlossenen Zeitungsladens ist alles ganz im Sinne von Boons Film dekoriert. Man kann dort die DVD kaufen, Stifte, Postkarten, diverse Kochbücher, ein Mini-Ortsschild. Alle Läden haben geschlossen. Alle Bars und alle Restaurants bis auf eine Crêpes-Kneipe und ein Imbiss, in dem Leute sitzen, Hähnchen mit Pommes essen und hinaus in den Regen gucken, wo ein kleines Grüppchen von Touristen über den kleinen … äh… großen Platz schlendert. In den Straßenrändern liegt noch Konfetti und ein großer Pappmachée-Bräutigam sitzt vor dem Rathaus und schaut sich den Parkplatz an.

Wir gehen am Rathaus vorbei, die Straße hoch. Wo auch immer sie hinführt. Es hat aufgehört zu regnen und wir falten den Schirm zusammen. Atmen durch. Schauen uns wie befreit um. Spüren dann wieder dicke Tropfen, die über das Gesicht laufen, in den Nacken und schließlich vom Wind gekühlt werden. Wir finden einen kleinen Park, kurz vor der Stadtmauer. Die Reste der Abtei St.Winoc. Zwei halbverfallene Türme sind dem Wind ausgesetzt, drumherum ein nackter Sandplatz. Ein großes Schild klärt über das Schicksal dieses Ortes auf. Während der Französischen Revolution wurden die Mönche, die Gründerväter der Festung, ermordet und die Abtei niedergebrannt. Der Platz davor, auf dem wir stehen, enthält die Asche dieser Menschen.

Es regnet immer noch, als wir die Stufen des kleinen Parks hinabsteigen und ein Stück die Stadtmauer entlang laufen wollen. Eine Familie picknickt im Regen, mit Decke und Proviantkorb auf der Wiese des Parks. Ich muss wieder an den Film denken und meine mich an ein Zitat erinnern zu können, dass es tatsächlich dort aber nicht gegeben hat. « Regnet es hier oft? » « Oft? Nein. Eigentlich immer. »

Ich stelle mir Bergues im Sommer ganz nett vor. Wie die zwei Sterne im Michelin-Atlas zustande gekommen sind, kann ich mir nicht ganz erklären. Es ist ein etwas bedrückender Ort und ich bilde mir ein, spüren zu können, dass die Stadt schrumpft und die Leute fortziehen. Von etwa 6.000 kurz nach der Revolution auf nunmehr nichtmal mehr 4.000.
Auf dem Weg zurück bekommen wir einen Vorgeschmack auf das, was noch mehrfach gelehrt bekommen werden auf unserer Tour durch den Norden. Vor dem Museum, ein großes, massives graues Haus, reizlos aber raffiniert, sehe ich Einschusslöcher und schwarze Backsteine.

Wir entschließen uns kurzfristig ans Meer zu fahren, nach Dünkirchen. Ich könnte mir keinen trostloseren Ort vorstellen. Eine Stadt, die ein Manifest gegen den Krieg ist, deren Hässlichkeit einen daran erinnert, wie sinnlos Kriege sind. Nicht immer erwächst aus Zerstörung etwas gutes Neues. Es gibt ein hübsches Rathaus, den Belfried und eine Kirche. Es gibt Betonklötze, Schmutz, Wind, Kälte, dafür aber viele junge Leute. Dünkirchen ist Universitätsstadt, die Klamottenläden und amerikanischen Fast-Food-Resturants sind voll. Ich fühle mich wie in einem Vorort von Liverpool.
Auch das Meer ist trostlos, kalt, grau, wild, der Wind eisig. Ein paar Menschen gehen am Strand und auf der Betonpromenade spazieren, ganz am Horizont im Norden sieht man Sanddünen, dahinter muss Belgien sein. Nach Süden Gravelines. Schlote, deren Qualm landeinwärts getrieben wird. Ich sammle schnell etwas Sand für meine Sammlung ein und wir fahren durch das Wirrwarr von immer gleich aussehenden Straßen über die Autobahn zurück in Richtung Lille. Gut so.


Dieses Bild erklärt sich selbst


Bergues Musée Municpal


Das Zentrum von Dunkerque. Und ja, wieder ein Foto mehr, wo ich durch das Bild renne… Zut alors.