Frankreichs neue Armut

Ich habe im Deutschlandfunk eine interessante Sendung entdeckt, die morgen früh ab 11:05 Uhr zu hören sein wird. Es geht um das, was uns allen bevorstehen könnte, wenn unser schönes Schuldensystem, auf dem sich unser Reichtum gründet, zusammenbricht. In Frankreich sind die Zeitungen voll mit Erfahrungsberichten von obdachlosen Familien und jungen Leuten, die gut ausgebildet keine Arbeit und keine bezahlbare Wohnung finden - während die Luxuswohnungen in Paris leerstehen. Dieser traurigen Entwicklung wird die Sendung morgen auf den Grund gehen und wir könnten eine Diskussion anschließen.

Hier die Sendungsinhalte:

dradio.de/dlf/programmtipp/g … s/1650938/
Livestream, Podcast und Radiofrequenzen findet man in der rechten Leiste.

In Frankreich leben 10 Millionen Personen in ärmlichen Wohnverhältnissen…Und es scheint leider immer schlimmer zu werden

Hat jemand die Sendung gehört? Ich fand sie sehr informativ und anschaulich. Interessant war vor allem der Beitrag der Sozialarbeiterin Véronique Stella, die die aktuelle Situation mit dem verglich, was in den 90ern war. Als « Ideen sprudelten » und es neue Vereine und in der Gesellschaft insgesamt eine schöpferische Dynamik gab. Davon ist jetzt nichts mehr übrig, sagt sie. Es gibt keine Mittel mehr und sie hält es für fatal, dass sich kein Minister mehr um den Wohnungsbau kümmert, sondern nur noch ein Staatssekretär.

Im Beitrag war von acht Milionen Franzosen die Rede, die unterhalb der Armutsgrenze leben, was der Bevölkerung von Österreich entspricht. Schockierend. Ich möchte nicht wissen, welches Land man als Vergleich heranziehen würde, wenn man alle Armen in Westeuropa zusammenrechnet.

Die komplette Verschriftlichung der Sendung findet man als PDF hier: dradio.de/download/157951/

Ich hatte mir deinen Tipp vorgemerkt, musste aber zu der Uhrzeit etwas anderes tun. Schön, dass man in dem Link die Sendung noch mal nachlesen konnte. Mir sind zwei Dinge besonders aufgefallen. « Hartz IV » ist in Deutschland inzwischen ein BEGRIFF geworden, der sich in den Köpfen der Menschen so verankert hat, dass er seinen « Tabu-Charakter » fast verloren hat, weil trotz des wirtschaftlichen Booms und der vergleichsweise niedrigen Arbeitslosenquote auch und gerade bei jungen Menschen inzwischen viele Menschen in Deutschland wissen, dass sie auch einmal davon betroffen sein könnten. In Frankreich ist das anders. Persönlicher beruflicher und sozialer Abstieg ist ein absolutes TABU-Thema, solange man nicht selbst davon betroffen ist. Und gerade bei jungen Menschen oft mit sehr guter Ausbildung ist die Chance, einen einigermaßen bezahlten Job zu finden, inzwischen fast schon wie ein Lottotreffer geworden.
Die zweite Sache ist, dass diese neue Armut sich besonders in den großen Städten konzentriert, besonders in Paris. Eigentlich sollte man eher vom Gegenteil ausgehen, von sich entleerenden Räumen, weil es keine oder nur zu wenig Arbeit gibt.
Vermisst habe ich in dem Bericht außer dem Pauschalgrund « Finanz- und Schuldenkrise » eine etwas genauere Analyse der Hintergründe der wachsenden Armut. Ein Grund könnte sein, dass eine jahrzehntelang geschützte Wirtschaft in diesem Jahrhundert mehr und mehr einem gnadenlosen Wettbewerb ausgesetzt ist, in Europa und besonders global.

stimmt,und wenn einen die armut und not trifft,das soziale umfeld sieht peinlich berührt weg und lässt sich nicht mehr blicken.
solidarität hat heutzutage nichts mehr zu sagen :frowning: :neutral_face:

Interessanter Aspekt, den ich bisher nicht bedacht hatte. Aber hilft es, einen Begriff zu haben, wenn Armut dennoch nicht immer sichtbar ist? In der Sendung wurde deutlich, dass sie das in Frankreich viel mehr ist als in Deutschland. Mir ist besonders das Bild der von Familien bewohnten Telefonzellen an der Bastille in Paris im Kopf hängen geblieben. Das habe ich hier noch nicht gesehen (zum Glück).
Auch wenn wir denken, dass Hartz IV schon ganz unten ist, so scheint es im Vergleich zu dem, was dort beschrieben worden ist, noch lange nicht wirklich ganz unten zu sein. Es geht noch schlimmer. Leider.

Anscheinend hilft aber beides - einen Begriff zu haben wie in Deutschland oder wie in Frankreich die sichtbarere Armut - nicht, sie zu beseitigen. An dieser Stelle muss ich an ein Lied denken über einen Hartz-IV-Empfänger, in dem es heißt:
Und du sagst:
„Wenn doch bloß nur
immer die Sache mit dem Geld nicht wär“
und das Gefühl man wär zu alt
und niemand wird kommen dich zu retten
wie einen Regenwald-Quadratmeter
oder ein WWF-Tier.

[size=85](Niels Frevert 2011)[/size]

Wie ein WWF-Tier… Die Leute spenden lieber für sowas als dass sie sich dafür einsetzen würden, eine Gesellschaft zu schaffen, in der es weniger Armut gibt. Weil ihnen bedrohte Tiere und der Regenwald realer vorkommen als der Penner vor ihrer Haustür. Bei denen ist es ok, herablassend zu sein, weil ja hierzulande niemand arm sein muss, es gibt Unterkünfte und Arbeitslosengeld etc. Es fehlt das Gespür dafür, dass Armut auch hier eine Falle ist. Wenn es im Radio heißt, dass gerade fünf Leute erfroren sind, dann kommt erst die Frage „Wie denn das… wo… welche Umstände…?“ und bei der Antwort „Das waren Obdachlose“ kommt dann ein „Ach so.“
Die Spaltung in der Gesellschaft in Deutschland und Frankreich ist so weit, dass man Armut fast gleichgültig gegenüber steht. Und wenn mal die Rede davon ist, dann vor allem, weil die Leute Angst vor Armut im Alter haben - aber keiner bedenkt, dass wesentlich mehr Kinder arm sind als dass es arme Rentner gibt. Aber Kinder sind ja keine Wähler und daher für die Politik uninteressant…

Ein ntv-Beitrag aus dem Jahr 2009, der schon allein schon wegen einer Zahl schockierend ist: Obdachlose in Paris, die einem festen Job nachgehen, aber mit 1.300 Euro netto im Monat !!! (ich dachte erst, ich höre nicht richtig) kein eigenes Dach über dem Kopf bezahlen können. Sie hätten ein Anrecht auf eine Sozialwohnung, aber es gibt keine.

n-tv.de/mediathek/videos/Arm … 22573.html

genau an diesen bericht musste ich denken, als ich die ersten zeilen in diesem thread las.

…und ist es nicht dramatisch, das menschen sich selbst was vorlügen müssen (wir sind ja nicht obdachlos, wir wohnen ja in einem zelt, schlafen in einem auto etc…) weil die gesellschaft sie sonst ächtet. die schere klafft immer weiter auseinander.

und warum sollten es die ändern, die alles haben :question:

Mich stört noch etwas Anderes. Auf welchem Kontinent befindet sich ein Ort, wo man abzüglich aller Abgaben (Sozialversicherung, Rentenansprüche etc.) als Einzelperson ohne Kind und Kegel mit 1.300 EURO netto (2.550 DM, 1.700 US-Dollar, 8.530 Französische Francs !!!) mehr oder weniger obdachlos ist ?

wie sagte doch unser parisführer im vorletzten weihnachten so schön, mit seinem gehalt bei der metro verdient er soviel, das er in einem vorort wohnen kann. 2 zimmer, küche und co. für mehr reicht es nicht. 2 erwachsene und ein kind. in paris wäre nichts zu machen.

Praktisch wird es nicht möglich sein, aber was würde theoretisch passieren, wenn eine Stadt wie Paris einfach eine Verordnung erlässt, die eine Maximalmiete festsetzt? Natürlich gestaffelt und auf die Faktoren Lage, Größe, Zustand etc. zugeschnitten?
Es kann nicht sein, dass man für acht Quadratmeter Bruchbude in Paris eine beinahe dreistellige Monatsmiete zahlen muss. Das ist unverhältnismäßig und nicht nachvollziehbar. Die Stadtbaumeister (nicht nur in Paris, sondern in allen « hippen » Städten) sollten doch verstehen, dass man im Sinne der Vielfalt und Lebendigkeit ein anderes Modell von Stadt braucht.
Vermutlich gibt es auch im französischen Zivilrecht einen Paragraphen zur Wucher. In den könnte man eine Klausel einfügen, der den Erlass von derartigen Ordnungen erlaubt.

Früher oder später muss man an sowas denken. Nichts reguliert sich selber. Es sei denn durch einen Krieg und das muss wirklich nicht mehr sein.

Wie dieser Krieg real aussieht, hat man in den letzten Jahren in den Vorstädten von Paris, und nicht nur dort, gesehen. Und das konnte bisher auch kein Hochdruckreiniger (…) ändern. Leider. Nur den/die Schuldigen zu finden, ist das Problem, wenn man den Begriff „Schuld“ hier mal zulässt.

Heute erschien auf lemonde.fr ein Artikel des französischen Kinderrechtlers Jean-Pierre Rosenczveig über Kinderarmut in Frankreich. Er stellt eine Studie vor, die 3 291 000 arme Kinder ermittelt hat, was in etwa dreimal so viele sind wie noch zu Beginn der letzten Dekade. Diese Zahl beinhaltet jedoch nur das französische Festland, nicht die Überseegebiete.
Er prangert an, dass die fünftgrößte Wirtschaftsmacht der Welt einem Fünftel seiner 13,5 Millionen Kinder kein ausreichendes Einkommen bereitstellen kann.

Auch eine « Landkarte der Kinderarmut » wird vorgestellt. Die meisten Armen leben in der Region Provence-Alpes-Côte-d’Azur mit 29%. In der Region liegen die Städte Marseille und Avignon, in denen 44 bzw. 45% aller Kinder arm sind.
Wie bei uns ist auch in Frankreich eine Armutsfalle alleinerziehend zu sein. Es gibt wenig Möglichkeiten für Mütter, Teilzeit zu arbeiten und zudem wie schon angesprochen wenig günstige Wohnungen, sodass 600.000 Kinder in schlechten Wohnverhältnissen leben, darunter auch Wohnwagen und Mobile-Homes. 21.000 gar müssen in Garagen, Autos und Kellern hausen. :exclamation:

:arrow_right: Blog Le Monde: 3.291.000 enfants pauvres en France

Erschreckend, dass gerade meine Region an der Spitze steht. Und als Tourist merkt man es noch nicht einmal. Aber « Wegbleiben » wäre auch keine Lösung.

:open_mouth: Ich bin ja geschockt.
focus.de/politik/ausland/jug … 00132.html
Sind das wirklich nur die Auswirkungen von Armut und Arbeitslosigkeit? :frowning:

Ja, das ist nur die Arbeitslosigkeit und Armut mit dem Nebenschauplatz Perpektivlosigkeit; nur ganz wenige schaffen es aus dieser Isoliertheit. Soweit ich weiß.

was uns bei unseren letzten touren immer mehr aufgefallen ist, das immer mehr leute zu sehen sind, die richtige entfernungen zu supermärkten zu fuss zurücklegen, voll bepackte räder oder kinderwagen mit sich führen.
oder an der kasse, drei käufer hintereinander nutzen die gleiche marktkarte.
in den märkten sammeln sich die leute verstärkt an den ständen mit « promotion ». oder bei den artikeln, deren haltbarkeit abläuft.
ich habe regale gesehen, die nur mit billigstlebensmittel gefüllt waren. und man sah die leute gezielt darauf hinsteuern.

:astonished:
wie jetzt.geschockt… so naiv kann man(frau) doch nicht sein!!
…und ich sage das ist erst der anfang. :frowning:

Es ist ja im Prinzip bei uns nicht anders. Hier sehe ich immer lange Schlangen vor dem Tafelladen… Und an der Schule werden viele Kinder vom Förderverein unterstützt, wenn es darum geht Ausflüge zu machen oder Schulbücher zu kaufen.

In Frankreich liest man auch immer wieder den Aufruf der Restos du Cœur, die Helfer und Spenden suchen. Die Winterkampagne endet dort zwar auch im März, wie hier, aber auch dort wird den Sommer über verteilt:

Als wir in Amiens waren, sind wird von Norden reingfefahren… Kein schönes Viertel, wie es sie leider überall in Frankreich gibt